VERTRIEBENE / Der Streit über das Zentrum gegen Vertreibungen: Welche Lehren müssen gezogen werden?

Die Mühe des Erinnerns

Historische Aufarbeitung und Reflexion – Kanzler wie Außenminister verweigern sich. Doch Political Correctness hilft nicht weiter.

Autor: PETER GLOTZ

Rheinischer Merkur Nr. 47, 20.11.2003

- ausgewählt von Manfred Riebe 

Das klassische Argument handelnder Politiker, ob aus Prag, Warschau, Berlin oder Moskau, lautet, daß man sich mit der Zukunft abgeben müsse. Die Vergangenheit solle man den Historikern überlassen. In einem sehr allgemeinen Sinn ist das richtig. Zuerst einmal geht es immer um die vitalen Interessen der jeweils Lebenden. Deswegen wäre es abwegig, wollte man den Tschechen den Zugang zur EU wegen der Benes-Dekrete verwehren, so völkerrechtswidrig sie auch 1945 schon gewesen sein mögen. Man kann, man muß unbeschadet verschiedener nationaler Erzählung und verschiedener Rechtsauffassungen gemeinsam praktische Lebensprobleme anpacken. Politiker werden in Demokratien gewählt, um Hunger zu stillen, Streit zu schlichten, das Recht zu wahren. Identität und Glück der Menschen können sie nicht gewährleisten. So weit, so gut.

Aber die Nationen sind Zusammenhänge von Menschen, die früher gelebt haben, die heute leben und die morgen leben werden. Sie haben nur Selbstbewußtsein und Würde, wenn sie ihre Geschichte kennen und verstehen, wenn sie über ihre Toten trauern, über ihre Taten Stolz empfinden und über ihre Untaten entsetzt sein können. Die Geschichte kann man nicht wie eine Fliege wegscheuchen. Die Europäer erleben das bei der Debatte über die EU-Verfassung. Wenn Tschechen, Polen oder Slowaken eine Großmacht (heute die USA) suchen, an die sie sich anlehnen können, kommt das aus alten Zeiten – sie fürchten ein Europa, das von Deutschland und Rußland, heute vielleicht von Deutschland und Frankreich dominiert wird. Wer die Geschichte nicht kennt, versteht das nicht – und sucht deshalb an den falschen Stellen nach Gründen und Zukunftskonzepten. Das politisch korrekte Gesäusel, das Berufspolitiker, gute Menschen und Import-Export-Kaufleute betreiben, schafft keine Versöhnung, nur Geschäfte und Geschäftigkeit. Die sind auch nötig. Wenn aber ein harter Konflikt entsteht, ist der Scheinfriede wie weggeblasen.

Solche Überlegungen haben bei der Begründung eines Zentrums gegen Vertreibungen die entscheidende Rolle gespielt. Der Plural war Programm. Es gilt aus den Vertreibungen des 20. Jahrhunderts – von Armeniern, Griechen, Türken, Wolgadeutschen, Krimtataren, Sudetendeutschen, Ostpreußen, Schlesiern, Krajina-Serben oder Kosovo-Albanern – etwas fürs 21. Jahrhundert zu lernen. Gedacht ist an eine unlösliche Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Hitler hat sich bei seinen Vertreibungsplänen und seinen Vertreibungen auf die Türken berufen, der Genozid an den Armeniern – so hat er wiederholt gesagt – sei längst vergessen. Die Protagonisten des ethnisch reinen Nationalstaats nach 1945 – zum Beispiel Benes und Gomulka – haben sich (fälschlich) immer wieder auf das verhängnisvolle Abkommen von Lausanne von 1923 berufen, das vielen tausend Menschen das Leben gekostet hatte. Man muß einen geistigen Zusammenhang stiften, damit der Völkermord an den Armeniern genauso wenig vergessen wird wie die Schande von Lausanne, von der der britische Außenminister Lord Curzon sagte, dieser Bevölkerungsaustausch sei „eine durch und durch verwerfliche Lösung, für welche die Welt in den nächsten hundert Jahren schwer büßen wird“. Der Lord hatte Recht. Wir büßen noch immer.

Ausstellung und Diskurs

Das Zentrum gegen Vertreibungen will nichts „aus dem politischen Kontext reißen“, wie insbesondere in Warschau befürchtet wird. Wie wir vorgehen wollen, zeigt zum Beispiel meine Studie über das tschechisch-deutsche Verhältnis „Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück“ (Ullstein Verlag, München 2003). Die Vertreibung der Sudetendeutschen ist das letzte von sechs Kapiteln. Das Buch erzählt die Geschichte einer Verfeindung, und zwar im Horizont eines Jahrhunderts, 1848 bis 1946. Mit dieser Methodik will auch das Dokumentationszentrum arbeiten, das Erika Steinbach und ich vorbereiten. Es geht nicht um ein „Mahnmal“, also eine Installation, die nur Meditation und Trauer ermöglichen soll, sondern um das Ingangsetzen eines vertreibungskritischen Diskurses, um Aufklärung durch Ausstellungen, Anhörungen, Debatten. Die Trauer um unschuldige Opfer soll aus dem Aussprechen der Wahrheit, aus der Konfrontation unterschiedlicher Erzählungen, aus kontroverser Gedankenarbeit entstehen. Vor das stumme Entsetzen wollen wir die Mühen der historischen Aufarbeitung und der Reflexion setzen.

Jetzt, am Ende des Jahres 2003, ist sichtbar: Die gegenwärtige deutsche Regierung verweigert sich dieser Idee. Da mag Innenminister Schily noch so oft Vermittlungsversuche starten – Kanzler und Außenminister schauen angestrengt weg. Sie sind natürlich nicht für Vertreibungen. Aber sie halten ihre Gegnerschaft gegen diesen schwer aufzudröselnden Komplex – Vertreibung, Flucht, Deportation, Zwangsmigration, Zwangsintegration – abstrakt. Klare Positionen zum Schicksal der Kurden, der serbischen Minderheit im albanisierten Kosovo, zu Tschetschenien oder ungarisch-rumänischen Konflikten könnten diplomatische Verwicklungen auslösen. Zwar können hohe Amtsträger nicht reden wie Publizisten oder Professoren. Aber die deutsche Regierung vergibt Einflußchancen, zum Beispiel auf das Zentrum gegen Vertreibungen, dessen Diskurse die rechte Ecke der deutschen Politik aufmischen könnten. Wie nötig solche Diskurse sind, zeigt die Rede des hessischen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, dessen impliziter Rassismus allerhand verstohlene Zustimmung provoziert.

Wir können die Vertreibungsdebatte nicht weiter köcheln lassen; ein Topf, der zu lange auf dem Feuer steht, verkohlt auf der Unterseite und beginnt zu stinken. Das Zentrum gegen Vertreibungen hat nicht die Mittel, um ohne Sponsoren der öffentlichen Hand ein festes Dokumentationszentrum oder ein modernes, aktivierendes Museum zu errichten. Aber es wird von 400 deutschen Gemeinden, einer überparteilichen Unterstützergruppe und Spenden aus der Bevölkerung unterstützt. Wir sind arm, aber nicht mittellos. Ich halte es deshalb für sinnvoll, mit begrenzten Projekten die Arbeit zu beginnen, zum Beispiel mit einer Ausstellung über „Das Jahrhundert der Vertreibungen“, also das fürchterliche „kurze“ 20. Jahrhundert. Den inneren Zusammenhang der Vertreibungen zwischen 1915 und 2002 aufzuzeigen, vom Völkermord an den Armeniern bis zum Kosovo-Krieg und seinen Folgen, wäre ein augenöffnendes Unternehmen, so wie es die Wehrmachtsausstellung Jan Philipp Reemtsmas auch war, die bittere Debatte um falsche Fotos eingeschlossen. Jetzt muß das „Man müßte“ ersetzt werden durch einen ersten Schritt.

Eskalation droht.

Der Streit um Vertreibungen, den wir begonnen haben, wird weitergehen. Es ist auch ein Streit um Nationalismus, jene überspitzte Identitätssucht, die keinesfalls der Vergangenheit angehört, dazu ein Streit um „überwölbende europäische Strukturen“. Die letztgenannte Debatte wird bald eskalieren, vor allem, falls der Entwurf zu einem Verfassungsvertrag der EU an spanischen, polnischen oder österreichischen Ängsten scheitern sollte. Wir müssen erkennen: Die Vertreibung von Deutschen aus Böhmen, Mähren, Schlesien oder Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg ist Teil eines umfassenden, schwelenden und da und dort wieder brennenden Problems, das für Europa besondere Bedeutung hat: der Thematik von Völkermischzonen, Völkerwanderungen, Minderheits- und Volksgruppenrechten, Autonomiestatuten und Sprachregimen. Niemand wird diese Thematik, weder ihre geschichtliche noch ihre aktuelle Dimension, durch Political Correctness vom Tisch wischen können.

Der Autor ist Vorsitzender der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“.

Rheinischer Merkur Nr. 47, 20.11.2003