Westpreußen-Sagen


1. Die Sage vom Tolkemiter Aal

Einstmals trieb im Frischen Haff ein Tier sein Unwesen. Das Untier im Haff versteckte sich nicht, man kannte seine Gestalt: Es war ein Riesenaal. Fest stand, er war so gewaltig und stark, daß er im Fischbestand ungehindert räubern konnte. Kein Netz, keine Reuse widerstand seiner Kraft. Großen
Schaden richtete er an. Was die Fischer auch versuchten, es gelang nicht, ihn unschädlich zu machen. Der Aal wurde immer übermütiger und aggressiver und bedrohte schließlich sogar das Städtchen Tolkemit (heute polnisch "Tolkmicka").

Da ersannen weise Männer im Rat der Stadt eine List, um das gefräßige Monster zu besänftigen: Die Tolkemiter Bürger sollten es täglich mit reichlichen Futterrationen versorgen, obwohl sie selber nicht gerade im Überfluß lebten.

Der Trick wirkte und der Aal wurde ruhiger, trieb aber weiterhin sein Unwesen. Irgendein Bürger, der den Aal gerade füttern mußte, kam auf die Idee, er müsse auch getränkt werden. Er gab ihm gleich ein ganzes Tönnchen einheimisches Bier zu trinken, das der Aal nicht verschmähte.

Das Tolkemiter Bier kann nicht von guter Qualität gewesen sein, denn der Aal verendete nach dem Genuß desselben. ( Mit einem Fäßchen "Englisch Brunnen" wäre das sicher nicht passiert). Die Bevölkerung war erleichtert und legte unter Jubel den Kadaver in das seichte Haffufer an die Kette.

Der Tolkemiter Aal wurde in der Folgezeit das Wahrzeichen des Städtchens. Ein langer, kurvenreicher Waldweg im benachbarten Wieker Forst wurde "Der lange Aal " genannt. Viele Besucher kamen nach Tolkemit, um den Aal mit der Kette oder später die Stelle, wo er gelegen hatte, zu sehen.

Die Einheimischen, die wegen der sagenhaften Bierqualität gehänselt wurden, führten die Frager an eine bestimmte Stelle im Hafen und gar mancher mußte ein unfreiwilliges Bad nehmen.

Ein Elbinger, der einen Tolkemiter fragte, was der Aal mache, erhielt zur Antwort: "Den hebbe die hungrige Albinger opgefrete".(Den haben die hungrigen Elbinger aufgefressen).

Der Wirt des Gasthauses "Deutsches Haus", am Marktplatz gelegen, ließ 1924 das Gebäude umbauen und vergrößern. Er richtete das Ratsstübchen ein, wo die Ratsherren nach den Sitzungen im gegenüberliegenden Rathaus Erfrischung und Entspannung finden sollten. Ein Wandspruch deutet dies an:

Des Ratsherrn Trunk ist eine Pflicht, eine trockene Lampe leuchtet nicht.

Der gemütliche Raum enthielt auch eine Sehenswürdigkeit: Unter der Decke hing in Hanfseilen und mit einer rostigen Kette an der Wand befestigt, der Tolkemiter Aal. Das 3,50 m lange Tier hatte der Wirt selbst gebastelt: aus Segelleinwand genäht, mit Holzwolle ausgestopft und mit Ölfarbe naturgetreu angemalt. Von nun an konnte den Besuchern der Aal an der Kette wieder gezeigt werden.

Selbstverständlich gab es in diesem Restaurant als Spezialität "Aalgerichte" in allen Variationen: z. Bsp. Aal in Gelee mit Bratkartoffeln, Aal "grün" oder Aal gebraten, kalt mit Brot und Landbutter.

Die Tolkemiter wollten ihren Aal nun auch bei passenden Anlässen im Freien zeigen. Ein zweites Aaltier wurde angefertigt, etwa 10 m lang und stark im Umfang. 6 Fischer trugen ihn auf den Schultern, voran ein Fischer, der die Kette fest in der Hand hielt und ein anderer mit einer überdimensionaler Knittnadel (Werkzeug der Fischer zum Flicken der Netze), als Symbol des Berufsfischervereins.

Wenn sich diese Gruppe in einem Festzug durch die Straßen bewegte, ließ der Aal von Zeit zu Zeit ein
markerschütterndes Gebrüll ertönen, das von einem eingebauten Horn erzeugt wurde. Das Auftreten des Tolkemiter Aals wurde mehr und mehr bekannt und andere Städte und Veranstalter von Festumzügen luden die Fischer aus Tolkemit zur Teilnahme ein.

Im Festzug zur 700-Jahr-Feier der Stadt Elbing im Jahre 1937 fehlte er natürlich auch nicht.

-Christa Mühleisen-

(Quellenangabe: Rudolf Pillukat: Sage und Geschichten vom
Aal, Westpreußen-Jahrbuch Band 35, herausgegeben v. d.
Landsmannschaft Westpreußen, Münster: Verlag C.J. Fahle
GmbH, 1985, 160 Seiten)

Der Riesenaal und das Tolkemiter Bier 


Hans-Jürgen Schuch schrieb dazu: "Nach einer Sage wurden die Fischer der am Frischen Haff gelegenen Hafenstadt Tolkemit von einem Riesenaal geschädigt, bis er zu viel Tolkemiter Bier trank, einging und an die Kette gelegt wurde."

Im Ratsstübchen von Tolkemit steht an der Wand in Frakturschrift: "Genießen" und "Schluß" richtig mit Eszett. Auch am Hotel "Deutsches Haus" entdeckt man die Frakturschrift. Aber der Schriftenmaler beherrschte die Frakturschrift und das Schreiben der darin üblichen Ligaturen nicht; denn er schrieb das Wort "deutsch" nicht richtig mit dem Ligatur-Lang-s, sondern mit Rund-s.

Vgl. Fritz H. Jörn: Fraktur - Eine Schrift mit Tücken und Ligaturen. Auch Computer-Fraktur bewahrt nicht vor der s-Blamage.
www.joern.de/tipsn98.htm