Hans-Joachim Bohle

Exodus der evangelischen Kirchengemeinde zu Bischofswerder
im Jahre 1945


(Bearbeitung C. Mühleisen)

Anfang März 2007 sendete Arte und ARD das TV-Drama "Die Flucht": Nach 62 Jahren Flucht und Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung haben viele betroffene Menschen ihre persönlichen Schicksale für die Kinder und Enkel schriftlich hinterlassen.

Nachstehend eine kurze Abhandlung über die Kirchengeschichte von Bischofswerder, die ergänzt wird von dem Fluchtbericht von Frau Esther Seesemann, Witwe des letzten Pfarrers von Bischofswerder (1945).

Bischof Rudolf von Pomesanien (1322-1332) gründete im Jahr 1325 die Stadt Bischofswerder an der Ossa. Die St. Johanniskirche stammt aus dem Jahre 1331. Der Sage nach soll hier auch ein Kloster gegründet worden sein, und es sollen daher die Mauerreste in dem ehemaligen Pfarrgarten stammen.



Das Stadtwappen von Bischofswerder

In Bischofswerder können 3 Geistliche aus dem Gründungsjahrhundert der Stadt nachgewiesen werden, sie heißen Arnolt, im Jahre 1346, Heinrich genannt Fredecke, im Jahre 1348, und Nikolaus, im Jahre 1365. Aus dem 15. Jahrhundert ist der Name des Pfarrers Laurentius Weynrich, im Jahre 1457, genannt.

Am 31. Oktober 1517 hat der Reformator Dr. Martin Luther die 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geheftet. Am 6. Juli 1525 sprach sich Herzog Albrecht durch ein amtliches Schreiben öffentlich für die Reformation aus und befahl deren Durchführung in seinem Herzogtum.

1540 hielt die Reformation in Bischofswerder Einzug und 1544 wurde der erste evangelische Pastor ernannt.

In dem ältesten vorhandenen Kirchenbuch vom Jahre 1722 bis 1759 befindet sich eine Eintragung, deren erste Zeilen  lauten:

       "Series Pastorum Ecclesiae Bischofswerdensis post repurgatam Doctrinam a Papatu.
       1. Sebastianus Ilgnerus.
           Grudentinus Borussus.Ao.1544
           Introductus. Hie mortuus. 2  ...

Die deutsche Übersetzung dieser lateinischen Worte lautet:
"Reihenfolge der Geistlichen an der Kirche zu Bischofswerder nach Reinigung der Lehre vom Papsttum"

      1. Sebastian Ilgner aus Graudenz, ein Preuße. Im Jahre 1544 wurde er eingeführt; er starb hierselbst.-
          Es erfolgt  dann in der erwähnten Eintragung die weitere Reihenfolge der evangelischen Geistlichen.

Bis zum Ende der evangelischen Gemeinde Bischofswerder im Jahre 1945 wirkten 28 Pfarrer und 9 Hilfsprediger.

Zur Kirchengemeinde Bischofswerder zählten bis zum Jahre 1920  27 Kirchorte. Nach der Grenzziehung von 1920 waren dann nur noch 5 Kirchorte zugehörig. Groß- und Klein Peterwitz, Stangenwalde und Konradswalde mit Luisenthal. Der letzte amtierende Pfarrer in Bischofswerder war Pastor Wolfgang Seesemann (1940-1945).

Die Kirchengemeinde Bischofswerder war von

1325-1543 = 218 Jahre katholisch und von
1543-1945 = 402 Jahre evangelisch.


Seit 1945 wurde die evangelische Kirche von den Polen geplündert und steht seitdem stark reparaturbedürftig und ungenutzt. Die heutigen polnischen Einwohner sind katholischen Glaubens und der seit 1893 erbauten katholischen St. Nepomuk Kirche zugehörig.

Frau Esther Seesemann, geb. Hollmann, Witwe des letzten Pfarrers Wolfgang Seesemann, hat ihre Erinnerungen im November 1976 über die Zeit in Bischofswerder von 1940 bis 20. Januar 1945 und die darauf folgende Flucht in ergreifenden Worten niedergeschrieben:

Esther Seesemann - Erinnerungen und Betrachtungen
Abgeschrieben von Ernst Hoerschelmann - Oktober/November 2005

07426 Oberhain/Thüringen, November 1976
Jetzt soll ich noch einiges über unsere Zeit in Bischofswerder schreiben und habe Angst davor: Ihr werdet sagen: "Es war aber anders, so und so." Ich kann aber nur so schreiben, wie ich es in Erinnerung habe.

Wir lebten da vom 14. März 1940 bis 20. Januar 1945. Bischofswerder/Westpreußen war ein sehr alter Ort. Wie der Name sagt, eine Gründung des Deutschen Ordens (*auf einem trockenen Platz, inmitten einer Sumpflandschaft. Ritters "Geographisch-statistisches Lexikon" aus dem Jahre 1895 gibt an:

Bischofswerder Wpr. Stadt in Preußen, Provinz Westpreußen, Regierungsbezirk Marienwerder, Kreis Rosenberg, Amtsgericht Deutsch-Eylau, 1948 Einwohner. Post, Telephon, Eisenbahn Linie  Thorn-Osterode, Tuchmanufakturen, Acker- und Gemüsebau."

Zu unserer Zeit waren es ungefähr 2500 Einwohner, und es gab eine Tuchmanufaktur. Bei der Volksabstimmung im Jahr 1921 waren 98 % der Einwohner Deutsche. Die Grenze zu Polen (seit diesem Zeitpunkt bis 1939) verlief längs dem Flüsschen Ossa, 60 m hinter unserer Kirche, etwa 30 m hinter unserem Gartenzaun. Dies spielte noch in unserer Zeit eine Rolle, denn die ersten Jahre konnte man nur mit einem bestimmten Ausweis die Grenze überschreiten (die Grenze zwischen dem alten Reichsgebiet und dem "polnischen Korridor").

Unser Haus mit Hof, Hofgebäude und großem Garten lag neben der Kirche. Im unteren Stockwerk war das Amtszimmer, ein kleines Zimmer mit Kachelofen (in dem von 1940 an Papi - Prof. D. Otto Seesemann - wohnte), gr. Wohnzimmer, Esszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche. Kein Bad, wir badeten in der "Anstalt", die Kinder in einer Blechwanne. Klo und Pumpe auf dem gepflasterten Hof. Eine Treppe hoch ein Gästezimmer, ein großer sauberer Speicher und 2 kl. Mansarden.

Der Garten stieß nach Westen an die ehemalige Stadtmauer, ein massives Ziegelsteingebäude. 2 gr. Linden (in die eine schlug der Blitz ein), 1 Ahorn, Fliederbüsche; wir pflanzten 1940 5 August-Apfelbäume und 1943 noch 28 verschiedene Obstbäume. Von den 5 weißen August-Apfelbäumchen ernteten wir 1944 ein schönes Körbchen voll prima Äpfel. In der Mitte ein gr. Rasenplatz, wo wir saßen und die Kinder krabbelten und spielten. Es gab auch Johannisbeerbüsche, und ich zog eine Menge Erdbeeren und Gemüse, weil die Ernährung knapp war.



Ihr erinnert Euch vielleicht an den "Affenbaum" - einen erfrorenen Pfirsichbaum am Hause, dessen Äste Vater kappen ließ und auf dem Ihr zu klettern liebtet. Später ließen wir eine Wippe auf dem Hof aufstellen. Im Hofgebäude war eine gr. Garage, die uns als Koksraum für die Warmwasserheizung diente, ein Hühnerstall, Waschküche und Klo, (im Haus war keins).

Wir hatten einmal einen Hahn, der den armen kleinen Allo angriff, wenn der in den Garten wollte, ihm sogar auf die Schulter sprang und sein Köpfchen hackte. Bei Allos Wehgeschrei stürzten wir von allen Seiten herbei zu seiner Rettung.

Der Garten mache mir viel Freude. In der Gärtnerei Eichler nebenan kaufte ich mir die Pflanzen und fachsimpelte mit der netten jungen Frau Eichler, ihr Mann war Soldat, also fort.

Zu Bischofswerder gehörten noch die Dörfer Groß-Peterwitz (3 km nach Norden), Klein-Peterwitz (noch etwas weiter), Stangenwalde (3 km nach Westen), Conradswalde, 6 km hinter Stangenwalde mit Luisenthal. Die meisten Leute waren Bauern, in Bischofswerder nannte man sie "Ackerbürger", es gab auch einige Kaufleute. In diesem Jahr wurden vom Pfarramt sehr viele Urkunden verlangt, es handelte sich meist um die "arische" Großmutter. Ich habe unzählige ausgeschrieben und bekam viel Einblick in die alten Kirchenbücher. Seit 1543 war Bischofswerder evangelisch. Vater war der 28. Pfarrer seit 1544. 1943 wurde das 400-jährige Jubiläum groß gefeiert. Die Kirchenleitung war in Danzig. (Bischof Joh. Beermann), der Superintendent Jablonski war in Deutsch-Eylau.

Bürgermeister von Bischofswerder war Haneberg, ein ordentlicher Mann. Unser Vorgänger, Pfr. Kurt Dießelberg, hatte große Schwierigkeiten mit den Nazis gehabt. Er musste Soldat werden und kam am 3. Sept. 1939 bei Graudenz ums Leben. Da wir "Baltendeutsche" waren und "Heim ins Reich" kamen und 4 blonde Kinder "nordischer Rasse" hatten, und wohl auch, weil die Nazis mit ihrem Krieg beschäftigt waren, ließen sie uns ganz in Ruhe, und es wäre eine schöne Zeit gewesen, wenn es nicht gerade Kriegszeit gewesen wäre.

Am 10. September 1941 musste mein Mann auch Soldat werden und zwar als Dolmetscher. Gott sei Dank musste er während der ganzen Kriegszeit nicht auf Menschen schießen.

In Bischofswerder waren die "Diaspora-Anstalten", 1899 vom benachbarten Adel (von Hindenburg, von Puttkammer, Graf Brünneck usw.) gegründet, als Krüppelheim mit 200 Pflegeplätzen. Die meisten Behinderten wurden als Korbflechter, Bürstenmacher und Schuster ausgebildet. Die Frauen machten Handarbeiten. Zu unserer Zeit gab es viele Geistesgestörte da, auch Kinder. 6 Danziger Diakonissen leiteten und pflegten, ein Inspektor Peters leitete die Landwirtschaft, die zu dem gr. Gebäudekomplex gehörte. Die Patienten wurden "Jungens" genannt.



Ansichtskarte von 1899, dem Gründungsjahr der Diaspora-Anstalten (Sammlung Christa Mühleisen)

Es sind folgende Motive zu sehen: unten links Häuser an der Marktseite, darüber die Diaspora-Anstalten rechts der Bahnhof und darunter die Holzschneidemühle "Michalski".

Da gab es einen Bruno, der sehr beschränkt und nur zum Straßenkehren zu gebrauchen war, aber er hatte ein fabelhaftes Gedächtnis für Geburtstage. Er rief mir über die Straße zu: "Nächste Woche haben Sie Geburtstag, dann komme ich." Er kam immer mit einem Blumenstrauß, den er sich bei Bekannten zu betteln pflegte, und bekam Kaffee und Kuchen. Nur die Arztfrau ärgerte sich, als sie nach dem Geburtstage eine Rechnung von Gärtner Teschendorf bekam für den von Bruno gebrachten Blumenstrauß. Bruno hatte ein Gespür: Weihnachten 1944 legte er sich hin und starb, so musste er im Januar 1945 nicht auf die Flucht gehen. Die Leiterin, Diakonisse, wurde "Tante Lieschen" genannt, eine großartige Frau, sehr gebildet, sehr bescheiden, sehr tüchtig, die den Patienten eine wahre Mutter war.

Sie hat für Vita zum 1. Geburtstag ein reizendes rosa Kleidchen gestrickt. Die Buchhalterin, Tante Wanda, war keine Diakonisse, mit Tante Lieschen eng befreundet. Sie war sehr tüchtig in ihrem Fach, nett und lieb und aufopfernd und strickte wunderhübsche Deckchen. Sie besuchte uns nach dem Kriege in Rodheim und erzählte, wie sie Papi (Großvater Prof. Otto Seesemann) zum letzten Mal in Pyritz gesehen hatte. Vater leitete diese Anstalt, wir gingen sehr oft hin, und immer zur Weihnachtsfeier. Das waren die schönsten Feiern, die man sich denken kann, wenn die Verkrüppelten und Geistesgestörten um den Weihnachtsbaum saßen und standen und mit strahlenden Augen sangen: "Süßer die Glocken nie klingen."



Foto aus dem Garten der Diaspora-Anstalten (Nachlass von Wanda Hellwich)




Gruppenfoto mit den Diakonissen der Diaspora-Anstalten aus dem Nachlass von Wanda Hellwich

Unsere besonderen Freunde in Stangenwalde war die Familie Paul Lück mit 8 Kindern. Die Tochter Linde war so alt wie Heinrich. Der Sohn Gerhard musste zum Militär und stürzte mit 21 Jahren auf dem Flughafen Wiesbaden-Erbenheim ab. Wir waren sehr traurig, überhaupt kam oft eine Todesnachricht in unsere Dörfer, und das war sehr schwer, besonders als Vater abwesend war, weil selbst Soldat.

Wir hatten einen großen Haushalt, da auch Papi ganz zu uns zog, er hatte in Berlin-Lichterfelde, Tulpenstraße 26 B bei Onkel Heini gewohnt, aber die nächtlichen Fliegeralarme wurden ihm zu viel. Er hat dann Vater vertreten, als Vater einberufen wurde, hat gepredigt und alle Amtshandlungen getan und hat oft gesagt, wie viel Freude ihm dieser Dienst mache. Vormittags saß er an seinem Schreibtisch, rauchte und schrieb Briefe mit seiner winzigen Handschrift; nachmittags machte er Besuche  und Spaziergänge und pflegte an einer bestimmten Stelle der Bahnhofschaussee 100 m zu laufen. Er spielte Klavier und sang. Vater hatte in Bromberg einen gebrauchten Flügel gekauft.

Nachdem ich mich 1940 mit einer Hausgehilfin Meta und ihrer 14-jährigen Kusine Emma (Kindermädchen) gequält hatte, kam Januar 1941 Hedwig Kozikowski zu uns, unsere Hedi. Von ihr hatte ich die Hilfe, die ich brauchte. Sie war Polin, aß aber bei uns am Tisch (was eigentlich von den Nazis verboten war). Ich gab ihr auch mehr Lohn als erlaubt war. Mit viel Tränen nahm sie von uns Abschied, als wir im Januar 1945 auf die Flucht gingen, besonders liebte sie Werner.

Heinrich ging ab 1. April 1940 in die Volksschule, Bernd und Allo in den Kindergarten, wo sie aber regelmäßig Läuse bekamen, so dass ich überdrüssig wurde, sie jede Woche zu entlausen und sie zu Hause ließ.

Zur Weihnachtsfeier waren wir auch mal im Kindergarten, und es wurden Gedichte aufgesagt. Zum Schluss fragte die Kindergärtnerin: "Wer kann noch ein Gedicht aufsagen?" Und da stand Bernd auf und sagte "Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit...". Ich dachte, was wird wohl das Schicksal meiner christlich erzogenen Kinder im national-sozialistischen Staat sein?...

Da Krieg war, hatte jeder eine Lebensmittelkarte und eine Kleiderkarte. Es gab sonst fast nichts zu kaufen. Wir machten selbst Sirup aus Zuckerrüben und Speisestärke aus Kartoffeln. Ich machte für Euch Kleidung, Strümpfe, Spielsachen. Vater besorgte in Danzig Briefumschläge, Zahnpasta, Schnürsenkel usw. 1944 war Vater in Berlin in einer Kaserne, musste fast jede Nacht nach den Fliegerangriffen löschen und retten, und einmal brannte seine Kaserne ab und alle seine privaten Habseligkeiten. Vater in Gefahr, Onkel Heini an der russischen Front in Finnland, Tante Marlies Mann Gerhard in Russland und Kurland, mein Onkel Moritz und sein Sohn Hans Gert als Panzerführer in Russland - Hans Gert mit dem Deutschen Kreuz in Gold und anderen hohen Auszeichnungen in Italien und Russland, Bruno Soldat, ebenso Friedemann und Reinhard, letzterer kam Juni 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft. -

Wenn Ihr abends im Bett lagt, wir gesungen und gebetet hatten, Hedi nach Hause ging und Papi in der Anstalt war, saß ich unter der Speisezimmerlampe und stopfte Hosen und Strümpfe, hörte Radio: die Sendung "Der kleine Belgrader Wachtposten". Um 10 Uhr sang Lale Andersen "Vor der Laterne, vor dem großen Tor", - und dann setzte ich den Kleinen auf's Töpfchen und gab dem Baby die Flasche. Ich stand noch lange am lauwarmen Heizkörper und dachte, in welchem Schneegraben wohl meine Brüder und Verwandten liegen? Und hatte so wenig Lust, ins Bett zu gehen. -

1943 fiel mein liebster Vetter Gerhard Hollmann, der Vater von Friderun und Gertrud, auf der Krim. Am Tage war viel Arbeit und Kinderbetrieb, aber abends...

Ich bin so von Herzen dankbar, dass Vater am 12. Februar 1946 aus der Kriegsgefangenschaft in Frankreich kam, und dass ihr sechs die Flucht im Januar und Februar 1945 überstanden habt.

Lobe den Herrn meine Seele!

Prof. Dr.-Dr. theol. Otto Seesemann:
Abschied von Papi am 21. Jan. 1945 und was Wanda Hellwich uns erzählt hat: Im Herbst 1944 siedelte Papi aus unserem Hause in Bischofswerder in die Anstalten über, wo er es ruhiger und wärmer hatte.

Am Freitagabend, den 19. Januar, als wir schon aufbruchbereit in unserem Hause waren, (aber es war noch kein Eisenbahnzug zu erwarten, nur die Trecks der Bauern fuhren), kam Papi aus den Anstalten zu uns ins Haus: Man hatte ihm in der Anstalt gesagt, er solle lieber mit uns fahren. Er hatte seinen Pelzmantel an, Pelzmütze auf usw. und eine Tasche aus Segeltuch umgehängt, in welcher Proviant war. In der Hand sein kleines Köfferchen mit Wäsche und Kleinigkeiten. Er setzte sich im Amtszimmer hin und hörte zu, wie ein Hauptmann von Salzmann telefonierte wegen unserer Abreise. Da der Bürgermeister meinte, es würde noch ein Zug kommen, beschlossen wir um 4 Uhr morgens am Sonnabend, 20. Januar 1945, zur Bahn zu gehen: Papi, Hedi, ich und die Kinder, Rodelschlitten, Olaf (5 Monate alt) im Kinderwagen. Bei der Sägerei Sternberg waren Straßensperren aus dicken Balken gebaut. Erst Sonntag um 2 oder 3 Uhr kam der Zug, und um halb acht, als es hell wurde, fuhren wir in Marienwerder ein. Den Montag verbrachten wir im warm geheizten Wartesaal. Es war klar, sonnig und kalt, tags etwa -20°, nachts -28°. Am Montag gegen Abend wurde ein Zug aus Güterwagen zusammengestellt, die Menschen stürmten diesen Zug, Männer verluden Kisten und Gepäck, Frauen und Kinder griffen zu, und bald wurden die Schiebetüren geschlossen. Ich hatte gar keine Möglichkeit, diesen Sturm mitzumachen. Ich ging mit den Kindern wieder in den Waggon, in welchem wir aus Bischofswerder gekommen waren, und wollte mich da für die Nacht einrichten.

Papi gelang es, in den Güterzug hineinzuklettern zu freundlichen Menschen. Ich sprach mit der netten Frau im Güterzug (der Mann ein Schwerkriegsbeschädigter aus dem 1. Weltkrieg, im Rollstuhl, 8-jährige Zwillingsmädchen), die Leute überließen Papi eine Sitzecke auf einer Kiste und versprachen, für ihn zu sorgen. Er kam noch einmal heraus auf den Perron, der ganz menschenleer war, die Sonne ging blutrot unter, und wir sagten zueinander: "Jetzt gute Nacht, und Gott behüte dich, vielleicht sehen wir uns noch einmal, vielleicht nicht." Das waren unsere letzten Worte und der Abschied. Er stieg in seinen Güterzug, ich ging zu den Kindern, in einen von 3 Personenwagen 3. Klasse, die ohne Lok auf einem toten Gleis standen. Später in der Nacht sind diese 3 Personenwagen doch noch an den langen Güterzug angehängt worden. Wenn der Zug hielt, fragte ich nach Papi, habe ihn aber nicht gefunden. In Cersk-Heiderode, wo der Zug endete, alle aussteigen mussten, sollen die Bischofswerderer Menschen in einem Kino verpflegt worden sein. Ich ging mit Heinrich hin (die Kinder so lange in einem NSV-Heim), wir fanden ihn nicht und keiner wusste von ihm. Das ist ungefähr am 24. Januar gewesen.

Wanda Hellwich, die Buchhalterin der Anstalt, hat uns später in Rodheim besucht. Sie erzählte, ihre Gruppe und auch Papi seien bis Pyritz/Pommern gefahren und in ein Altersheim gebracht worden. Die Alten wurden in einem Konferenzraum um einen großen Tisch gesetzt. Zur Nacht sollten sie jeweils bei einem Bewohner des Altenheims im Zimmer auf der Couch schlafen. Plötzlich redete Papi Wanda Hellwich an und sagte: "Mir fällt eben ein, hier ist doch meine Nichte U.S. in Megow, das kann doch nicht weit sein, vielleicht kann ich dorthin". Sogleich wurde nach Megow telephoniert, und am folgenden Vormittag kam eine hübsche kleine Pferdekutsche Papi abholen: geschlossen mit Türen, an denen weiße Gardinen waren. Papi stieg vergnügt ein und winkte mit der Hand zum Abschied.

Tante Marie schreibt am 28.2.45 aus Sondershausen an Frau E. Seesemann in Weitershausen, Kreis Marburg:

...Und dann erhielten wir von Friederike folgende Nachricht:
Ronneburg 16.2.45:
"Soeben erhalten wir von einen Telefonanruf von Sigrid U. Sie lebte doch in Megow bei Pyritz. Dort ist Papi mit einem Transport angekommen und auf dem Gut von Sigrid aufgenommen worden. Überraschend kamen die Russen. Sigrid hat 5 Tage russische Besatzung mitgemacht. Die Bauern hatten sie versteckt und verpflegt, niemand wusste dass sie vom Gut waren. Dann sind sie um ihr Leben gelaufen bis zur 8 km entfernten deutschen Linie und sie ist durchgekommen. Papi ist nicht mitgelaufen und ist dort geblieben. Aber in den 5 Tagen ist ihm nichts passiert, die Bolschewiken haben ihn nicht beachtet. Da dort immer noch Kämpfe sind, hat man doch die kleine Hoffnung, dass er von den Deutschen befreit worden ist. Man kann nur immer beten, dass er gnädig abgerufen worden ist und jetzt schon von allem erlöst."

(Dieser Brief traf erst im November 45 in Hohensolms ein, vorher bestand keine Postverbindung.)

Elisabeth, Vaters älteste Schwester, schreibt aus Sondershausen am 25. Okt. 45:

Meine liebe Esther...Ich war jetzt 8 Tage in Ronneburg, hörte durch Ungerns auch von Papi. Als nach der Flucht vom Rittergut Megow der Inspektor nach einigen Tagen zurückkehrte, hat Papi tot auf dem Hof gelegen - ohne Verletzung - wohl Schlaganfall. Leider hat der Inspektor erneut fliehen müssen; als er 1/2 Jahr später wiederkam, hätten die Feinde alle Leichen in den Parkteich geworfen. Er hat sie herausgeholt, auch Papi, und hat sie im Park beerdigt. Mir ist es eine große Beruhigung zu wissen, dass er vielleicht schnell und schmerzlos gestorben ist...Ich gönne dem lieben Vater die Ruhe nach allem Leid, dass er nun beim Herrn ist und schauen darf, was er geglaubt hat...

Jetzt folgt eine Seite von Vater (Pfarrer Wolfgang Seesemann) geschrieben 3.12.1976:

Vaters letzter Abschied von Papi am 4. Jan. 1945
Ich war als Dolmetscher (Finnisch und Russisch) 1944 in Nord-Norwegen am Eismeer: Kirkenes, Elvenes und Tarnet. Weihnachten 1944 bekamen wir (20 Mann) einen Marschbefehl nach Wiesbaden. Die ersten 1200 km machten wir zu Fuß oder per Fahrrad (um Quartier zu machen und um Fisch zu tauschen) von Kirkenes über Ivalo - Inari - Karasjok - (die Lappen alle in bunten Trachten) Lakselv - Alta - Narvik - Lofoten/Harstat - Mosjön. Hier begann die Eisenbahn, mit der wir bis Oslo fuhren. Von Hamburg aus schickte unser Gruppenleiter (Lehrer aus dem Rheinland) uns für einige Tage nach Hause. Treffpunkt am 5. Jan. 45 in Wiesbaden Hauptbahnhof. So kam ich am 29. Dez. 44 für einige Tage ganz unverhofft nach Hause nach Bischofswerder. Ich hielt den großen Silvestergottesdienst in der Kirche, Papi den Neujahrsgottesdienst. Die Tage waren für uns alle ein großes Geschenk.

Am Nachmittag, den 4. Jan. ging mein Zug vom nahen Bahnhof aus. Heinrich zog den Rodelschlitten mit meinem schweren Gepäck, einen kleinen Koffer trug Papi, er wollte mir noch behilflich sein bis zuletzt. Esther und die Kinder gingen voran, Papi und ich hinterher. Ich musste ihn am schlechten Arm einhaken und ihn führen. Das wollte er schon in den früheren Jahren in Dorpat. Der Zug stand auf dem Bahnhof und der Abschied war kurz. Wir wechselten mit Esther und dann mit Papi dieselben Worte: Unser Leben steht in Gottes Hand, sehen wir uns wieder, wann und wo? Sehen wir uns nicht wieder, dann wird es auch gut sein. Dann sind wir beim Herrn.

Nachschrift von Mutter:
Der Marschbefehl erging im September 1944 nach der Kapitulation Finnlands. Weihnachten 1944 war Vater auf der Überfahrt von Oslo nach Dänemark von U-Booten und Flugzeugen beschossen worden. Am 25.12. kamen sie in Dänemark an, standen an der Rehling und sangen Weihnachtslieder.

21. August 1975
Wie mir in einer schweren Zeit Gottes Worte lebendig werden.

Motto:
Noch will das Alte unsere Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
Das Heil, das du für uns bereitet hast.

Und willst du uns noch einmal Freude schenken
In deiner Welt an ihrer Schönheit Glanz,
dann woll'n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.
Dietrich Bonhoeffer

Mein Mann wurde Pfarrer in Bischofswerder/Westpreußen und Leiter der dortigen Diaspora-Anstalten mit 200 Pfleglingen (Krüppel, Sieche, Alte), die von 6 Danziger Diakonissen betreut wurden.

Bald musste mein Mann Soldat werden und zwar Dolmetscher. Der Text seiner Abschiedspredigt war: "Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn..."

Im Januar 1945 standen die russischen Truppen ihn unserer Nähe, und (am 20. Jan.) eines frostigen Morgens um 4 Uhr früh bei 28° Kälte verließ ich mit unseren Kindern unser gemütliches Pfarrhaus, um mit der Bahn nach Westen zu fahren. Die Kinder waren damals 10, 8, 7, 5, 2 Jahre alt und der kleine Olaf 4 1/2 Monate.

Im Kinderzimmer hing immer ein großes biblisches Bild an der Wand in einem Wechselrahmen, es waren Farbzeichnungen des Malers Rudolf Schäfer. Zu Weihnachten war es das Bild vom Stall in Bethlehem gewesen, nachher das Bild von der Flucht nach Ägypten. Maria und das Kind auf dem Esel, von Joseph geführt. Im Vordergrund sah man einen Fuchs neben seinem Loch, am Himmel Vögel. In den Wochen der Flucht, als wir öfter in der Nähe der feindlichen als der deutschen Armee waren, dachte ich oft an dies Bild und das Wort des Herrn: Die Füchse haben ihre Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hinlege. Dies war ein starker Trost.

Und das andere Wort: Bitte aber, dass eure Flucht nicht im Winter geschehe und am Sabbat.

Es war Winter und tiefer Schnee, und Sonntag, den 21. Januar fuhren wir ab. Man konnte oft das Haupt nicht hinlegen, man war froh, wenn man nur einen Platz zum Stehen hatte inmitten von Flüchtlingsscharen, die in Panik weiterdrängten.

"Der Engel sprach: Gehorche.
Ich habe dir keine Verheißung zu sagen.
Dir zu Füßen ist Meer gebreitet.
Unberaten und ungeleitet
Musst du das Wagnis des Petrus wagen.
Ob dich die Wellen wie Hände tragen?
Ob der Herr dir entgegen schreitet?
Ich weiß es nicht,
und du darfst mich nicht fragen."
W. Bergengruen

Nun übergab ich mich, bevor wir das Haus verließen, ganz und gar dem Herrn und war nun wohl in Gedanken bei allen lieben Menschen, aber ohne Angst und Sorge.

Natürlich konnte ich kein Gepäck mitnehmen, außer einem Rucksack, da ich meine Hände für die Kinder brauchte. Wir besaßen nur das, was wir am Leibe trugen und wussten nie, wann und ob wir was zu essen finden würden. Aber welche herrliche Freiheit gibt das, diese absolute Abhängigkeit vom Vater im Himmel. Es war wie eine Gratwanderung in einer klaren kalten Bergluft, so frei und unbeschwert fühlte ich mich.

Liebt doch Gott die leeren Hände
Und der Mangel wird Gewinn.
Immerdar enthüllt das Ende
Sich als strahlender Beginn.
Jeder Schmerz entlässt dich reicher,
preise die geweihte Not,
und aus nie geleertem Speicher
nährt dich das geheime Brot.
(W. Bergengruen)

Das schönste Geschenk war auch : die Kinder waren ohne Angst, still und geduldig. Wir waren unter dem Schirm des Höchsten, unter dem Schatten des Allmächtigen, dass wir nicht erschrecken mussten im Grauen der Nacht - wenn Dörfer und Städte brannten, noch vor den Pfeilen - den Bomben - die des Tages fliegen.

(Berlin, 3. Febr. 12 Uhr mittags). Als wir einmal keine Möglichkeit hatten, vor den vorrückenden Russen fortzukommen, nahmen uns Soldaten in ihrem Panzer mit. 17 Stunden saßen wir in einem eisernen Grabe, wie Jonas im Walfisch. Als wir nach 2 Wochen Berlin erreichten und in einem Postwaggon in einem Bahnhof standen, erlebten wir einen großen Angriff aus der Luft. Ich sah, wie die Bomben aus den Flugzeugen fielen, erst torkelten, bevor sie in die Tiefe sausten. Berlin brannte danach 3 Tage. Es war am Samstag, den 3. Febr. 1945 mittags, bei diesem Angriff kam Freisler ums Leben.

Er hatte seinen Engeln befohlen, uns zu helfen. Ein unbekannter Soldat, eben aus dem Lazarett entlassen, half beim Einsteigen in einen Zug. Ein junger magerer Fliegersoldat hielt mein Baby eine ganze Nacht auf seinen Knien. In dunkler Nacht, als es unmöglich schien, aus dem vollgestopften Gang herauszukommen, um umzusteigen, hoben Soldaten mich aus dem Zugfenster und zählten mir die sechs Kinder vor die Füße. Andere Soldaten schenkten mir ein Kommissbrot. Mit Dankgebet schnitt ich es und gab es den Kindern. Da kam Heinrich angesprungen: "Sieh, das hat eben auf den Schienen gelegen!" Es war ein angefangenes Päckchen Butter. Für das Jüngste kaute ich Brot und spuckte es ihm ins Mündchen, und der freundliche Lokführer füllte warmes Wasser aus dem Lokomotivkessel ins Säuglingsfläschchen, so dass der kleine Olaf auch trinken konnte. Endlich ließ die Kälte nach. Frühlingssonne schien, und auf der Flucht durch Deutschland kamen wir durch unzerstörte Orte. In Hessen kamen wir in einem Bauernhause unter. Eine arme Kuhmagd schenkte uns 2 Bettücher  und 2 Handtücher.

1946 kam mein Mann aus der Gefangenschaft, und wir waren wie die Träumenden, als unsere Gebete um seine Heimkehr erhört waren. Der Herr hatte Großes an uns getan und wir waren fröhlich.

Alle Kinder hatten wir behalten dürfen und konnten einen neuen Anfang in einem Pfarrhaus machen. Wir gut war mein Mann dran: Als Handwerkszeug brauchte er nur eine Bibel, und die hatte er in der Gefangenschaft aus der Schweiz geschenkt bekommen. Herr, ich kann nur täglich meine Hände falten, dass ich danke, lob und preis und auf meinem Pfade endlich nichts zu rühmen weiß als allein die Gnade.

Berlin, Februar 1945
Wir waren am 20. Januar 45 um 4 Uhr morgens aus dem Haus in Bischofswerder gegangen, am 21./22. Januar (Sonntag) um 2 Uhr nachts kam ein Zug. 3 Tage später kamen wir in Cersk/Tucheler Heide an, am 27. Jan. 10 Uhr abends nahm ein Panzer uns mit über Bütow nach Rummelsburg (17 Stunden im Panzer) dann dampften wir durch Pommern, in einem Postwagen der Bahn. Olaf, 5 Monate alt, lag zuerst oben auf den Briefsäcken, später in der Schublade für Einschreibbriefe.

Am Sonnabend, den 3. Febr. morgens kamen wir in Berlin-Karlshorst (Nordosten) an, ganz apathisch vor Müdigkeit und Hunger. Es gab bald nach 11 Uhr vormittags Fliegeralarm, wir noch im Postwagen im Bahnhof Karlshorst, so 20 nach 11 kamen sie massenhaft. Die Menschen im Wagen schrien. Ich konnte nur denken, hoffentlich sind wir auf einmal tot. Man sah die Bomben, wie sie aus den Flugzeugen kamen, erst torkelten sie und fielen dann mit der Spitze nach unten und der große Krach.

Als es nach 20-30 Minuten vorbei war, war uns nichts passiert. Etwas später ging ich in einem Waschraum im Bahnhof, um mir endlich mal die Hände zu waschen. Da waren ein paar Soldaten, die vom Retten von Zivilisten kamen und ich hörte, sie hatten aus einem Keller am Bahnhofsplatz Frauen und Kinder geborgen, alle im Abwasser ertrunken. Ob wir an dem Tage etwas zu essen hatten, weiß ich nicht mehr. Abends im Dunkeln setzte der Zug sich in Bewegung, fuhr durchs brennende Berlin. (Es brannte drei Tage, bei diesem Angriff wurde Freisler von einem stürzenden Balken erschlagen). Die Nacht ging irgendwie herum und am anderen Tage, als es hell wurde, standen unser Waggon und noch 2 andere in Nauen auf einem toten Gleis ohne Lok. Mittags kamen Frauen, wir wurden in eine Schule geleitet (bekamen Brot und Tee? Weiß nicht genau) und die Babys wurden gebadet und bekamen eine frische Windel. Dann bekamen ich mit den 6 Kindern ein Klassenzimmer ganz für uns allein, Stroh war geschüttet. Ich sank hin und dachte noch, wie herrlich Platz zu haben und die Beine ausstrecken zu können, da war die Sirene, der Schuldiener rannte und schrie herum und jagte alle in den Keller. Mir waren Keller unheimlich. Ich ging mit den Kindern in die Nähe der Eingangstür, legte Olaf auf den Fußboden. Den Kinderwagen hatten wir beim Besteigen des Panzers in Cersk gelassen. Das Krachen war nur undeutlich zu hören, sehr laut das Kurven von Flugzeugen über uns in der Wolkendecke. Nachher haben wir etwas geschlafen. Die freundliche Frau, die Olaf gebadet hatte, kam mit Milch für ihn, sie bot mir die Wohnung einer geflüchteten Nachbarin an. Gegen diese Wohnung geflüchteter Menschen war ich misstrauisch, wollte weiterfahren nach Thüringen, dachte, das ist in der Mitte und wahrscheinlich weit genug von den Russen. Ja da war eine Ausreisegenehmigung aus Berlin nötig (eigentlich Blödsinn, da wir aus Westpreußen kamen). Die nette Frau nahm meine Kinder zu sich in ihre Wohnung und gab Ihnen eine gute Graupensuppe. Ich fuhr um 14 Uhr, als gerade kein Alarm war, mit der S-Bahn über Spandau zu der Behörde, wo man diese Genehmigung kriegen sollte. Es war eine Gespensterstadt, nur saubere Mauern mit vielen Fensterhöhlen. Im Zentrum angekommen, musste ich ein Stück zu Fuß gehen, d.h. alle liefen auf einem schmalen Pfad zwischen Wällen von glimmenden, rauchenden Trümmern, ich trabte in der Schlange mit.

Die "Behörde" war in einem gr. Saal, wohl ein Vereinslokal gewesen, auf Böcke waren Bretter gelegt, da saßen 4 ältere Bahnbeamte und kritzelten was mit ungelenker Hand auf aus dem Schreibheft ausgefetzten Zetteln. Kehrt und wieder zur S-Bahn, und der Alarm kam erst, als ich bei der freundlichen jungen Frau (die selbst ein paar kleine Kinder hatte) in der Wohnung war und den letzten Teller Gerstensuppe bekam. Sie mobilisierte 2 BdM-Mädchen, sehr fixe und tatkräftige, aber sehr magere blasse höchstens 13-jährige, die mich zum Bahnhof Charlottenburg begleiten sollten. Die eine trug Olaf, die andere den Rucksack, ich hatte Werner und Vita an der Hand und dirigierte die 3 Großen (Heinrich 10, Bernd 8, Alle 7 Jahre alt). Der Bahnhof Charlottenburg überfüllt, der Perron dicht gedrängt, die 2 Mädchen verabschiedeten sich. Wann ein Zug käme, sei ungewiss. Es kam aber bald einer, der 14 Stunden Verspätung hatte. Ein aus dem Lazarett entlassener elender Soldat und eine Rotekreuzschwester halfen mir hineinzukommen. In den Abteilen saßen gut gekleidete dicke Menschen mit Thermosflaschen und Proviant. Wir standen auf dem Gang so eng, dass niemand umfallen konnte, aber leider fiel doch etwas um: ein Milchgeschirr mit Magermilch von der netten Frau. Ein Fliegersoldat half Olaf. Endlich fuhr der Zug ab, blieb aber bald wieder stehen: Alarm. Um 4 Uhr morgens waren wir in Naumburg, da sollte ich nach Thüringen umsteigen, aber die Soldaten machten es großartig: Fenster auf, "Kameraden, passt mal auf, da kommt eine Mutti", sie hievten mich hinaus und zählten mir die Kinder vor die Füße. Totale Verdunkelung. Zum Glück konnten wir bald weiterfahren. Weimar - brannte, Jena - brannte (ach, Goethe und Schiller), und um 8 Uhr morgens waren wir müde in Sondershausen. Das Wetter war plötzlich warm und schön geworden. Ich legte Olaf im Bahnhofsrestaurant auf einen runden Tisch, sagte den Kindern, sie wollten warten und ging in die Stadt. Fragte mich durch zur Schwesternstation und zu meiner Schwägerin Elisabeth (Diakonisse). Sie und Marie gingen mit einem Handwagen und holten die Kinder ab.

Am 16. Februar mussten wir weiterfahren nach Hessen. Ich wollte so gerne in Thüringen bleiben, in einem kleinen Dorf, aber die NSV gab mir 1 Fahrkarte und ich wurde in den Zug begleitet, der um 24 Uhr abfuhr.

5 Stunden Alarm in Kassel am 17. Febr. Sonntag, den 18.2. in Marburg. Am 19.2. abends holte ein Bauernfuhrwerk uns 18 km ab nach Weitershausen, wo wir bis Anfang August waren in einem Bauernhause.

Den Zettel von Berlin hat Heinrich noch mit anderen Denkwürdigkeiten vom Jahr 45 in einem Karton in Plön im Keller. Natürlich hat Febr. 45 niemand danach gefragt. 

(Nach Unterlagen der Familie Heinr. Seesemann)

(*des Bistums Pomesanien



Prof. Otto Seesemann (1866-1945) hielt ab 1920 im Lehrauftrag Vorlesungen über das Alte Testament und erteilte Religionsunterricht an verschiedenen Schulen. Von 1928-1936 wirkte er als ordentlicher Professor für das Neue Testament. Als akademischer Lehrer verstand er es, seine Studenten auf die Problematik der verschiedenen Fragen hinzuweisen und zu eigener Meinungsbildung und Stellungnahme anzuregen. Die Ergebnisse fachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen wurden nicht von vornherein mitgeteilt, etwa unter Nennung führender Autoritäten. Auch das Eingeständnis, es bleibe mancher Sachverhalt undurchsichtig, manches Rätsel ungelöst, enttäuschte das Auditorium nicht, vertiefte eher das Vertrauen zu dem Vortragenden! Durch die Darlegung der Diskussion klang hindurch die Erfurcht des Vortragenden  vor Gott, der in den Schriften des Alten und Neuen Testaments zu uns Menschen redet.

Heinrich Seesemann, Sohn des Professors Otto Seesemann, erwarb im Jahre 1929 in Dorpat den Titel eines Magisters der Theologie. Nach weiterführender theologischer Arbeit in Deutschland und als Lic. Habil. In Göttingen wurde er Dozent für das Neue Testament am Herder-Institut in Riga und von 1939-1941 an der Universität Berlin.

Zum Erinnern
Ein seelsorgerlicher Brief an seine zerstreuten Gemeindemitglieder z. neuen Jahr 1950
Von Pfarrer Wolfgang Seesemann,
61191 Rodheim vor der Höhe,
Kreis Friedberg/Hessen, den 2. Jan. 1950
Ihr lieben Freunde aus Bischofswerder, Gross-Peterwitz, Standenwalde, Conradswalde und Luisenthal!

In den Weihnachtstagen sind meine Gedanken so viel zu Euch geeilt, dass ich Euch heute mit diesem Rundbrief besuchen will. Ich komme mit meinen herzlichsten Segenswünschen zum neuen Jahr zu Euch allen und Ihr werdet es mir glauben, dass ich anstelle des Briefes gern persönlich zu Euch käme, um Euch in der Zerstreuung und Vereinsamung Eures Lebens Trost und Kraft zuzusprechen. In den stillen Stunden der Festtage sind unsere Gedanken gewiss zueinander gezogen in Heimatliebe und Heimatsehnsucht, und wir haben mit unserem inneren Auge unsere schönen Kirchen in Bischofswerder und Gross-Peterwitz geschaut, dazu die bekannten heimatlichen Wälder, Fluren und Felder! Wir brauchen uns unserer Heimatsehnsucht gewiss nicht zu schämen, sie ist echt und gut! Ein starkes Wort eines Bauern aus unserer Gegend geht mir öfter nach: "Alles Irdische haben sie uns genommen, aber unseren Christenglauben und unsere Erinnerungen kann uns niemand nehmen!" Diese Erinnerungen sind gewiss für viele von uns ein großer Schatz und wie köstlich ist es, wenn sich in der Gegenwart unter den ganz veränderten Verhältnissen einige Heimatfreunde treffen, um Erinnerungen auszutauschen. - Aber nun das andere, das uns niemand nehmen kann: unser Glaube! Dieser Glaube an unseren Herrn und Heiland Jesus Christus kann uns allein aus dieser verworrenen und verlorenen Welt retten. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Ihr in den schweren Belastungsproben der letzten Jahre Euren Glauben nicht verloren habt, sondern dass ihr vielmehr durch die Erlebnisse erst recht zum lebendigen Glauben an unseren Heiland gekommen seid. Wie herrlich klingt das Bekenntnis eines Ostflüchtlings: "Ich habe durch die Flucht sehr viel verloren, aber dabei noch mehr gewonnen." Der Mann hatte auch sein gesamtes Hab und Gut und seine irdische Heimat verloren, aber er war zum Glauben gekommen und er hatte seinen Herrn Jesus Christus und damit seine himmlische Heimat gefunden. Die Hauptsache ist doch, dass wir unsere himmlische Heimat kennen und damit das letzte Ziel unserer irdischen Wanderschaft: die letzte Gemeinschaft mit dem Herrn, wo alle Tränen von unseren Augen gewischt werden, wo kein Leid, kein Geschrei und kein Schmerz mehr sein wird. Wir sind doch alle in tiefstem Sinne Heimkehrer, Heimkehrer Jesu Christi, die den Weg durch das Dunkel unserer Tage ins himmlische Vaterhaus suchen. -
So wünsche ich Euch allen zum neuen Jahr 1950 ein getrostes Wandern im Glauben..."
(erschienen im "Danzig-Westpreußischen Kirchenbrief" Nr. 198 Dezember 2002)



Konfirmation am 29. März 1942
Prof. Seesemann, Pastor Seesemann
Schwester Margarete

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