Die Eroberung Elbings in
Ostpreußen durch die russische Armee 1945 und das Überleben unter
russischer Besatzung:
- Ein erschütternder persönlicher
Erfahrungsbericht -
Vorwort
von Herrn Dr. med. Max Dienel:
"Das
letzte Pferd" - Kohlezeichnung von Gerhard Templin
Januar 1945: Die russische Armee überrollt Ostpreußen. Die meisten Einwohner
fliehen in langen Flüchtlingstrecks. Für die, die zurückbleiben,
beginnt eine Zeit der völligen Willkür und Rechtlosigkeit. Marta
Saretzki, eine einfache Frau aus Elbing ist 66 Jahre alt, als die
Katastrophe über sie hereinbricht. Sie bleibt wegen ihre 94-jährigen
Mutter, die die Flucht nicht überlebt hätte. Ihr Tagebuch vom Januar
1945 bis zum Sommer 1946 ist ein Dokument des Schreckens. Aber es ist
auch ein Zeugnis ihres erfolgreichen Überlebenskampfes mitten im Chaos
und ihres tiefen christlichen Glaubens, der ihr in dieser Zeit Halt gab.
Sie war aktives Mitglied in einer Baptistengemeinde in Elbing.
Marta
Saretzki ist "unter der Schreckensherrschaft der Russen und
Polen" (wie sie diese Zeit selbst nennt) über sich selbst
hinausgewachsen: Sie hat es in dieser schwierigen Zeit geschafft, sich
auch noch um Mitmenschen aufopferungsvoll zu kümmern. Ihre
Tagebuchaufzeichnungen dokumentieren, wie man in völligen
Ausnahmezuständen überleben kann und worauf man achten muss. Wer
weiß, ob wir solche Erfahrungen nicht noch einmal aktuell benötigen,
wenn erneut urplötzlich Chaos über unser Land hereinbricht.
Das Tagebuch von
Marta Saretzki, geb. Thimm
Bearbeitung: Christa
Mühleisen1952 im Alter von 75 Jahren
geschrieben aus der nie verlöschenden Erinnerung, nach kleinen
Aufzeichnungen unter der Schreckensherrschaft 1945 bis Sommer 1946.
Mein
Mütterlein und ich unter der Schreckensherrschaft der Russen und Polen.
Heute,
am 10. November 1951, feiere ich ganz still für mich allein in treuem,
liebenden Gedenken ihren 100. Geburtstag. Habe mir auch einen kleinen
Geburtstagstisch aufgebaut mit großem, prächtig blühendem Topf,
darunter Muttchens bekränztes Bild und ringsherum Briefe und
Blumenkarten meiner Geschwister, die mir fast alle 7 zu dem schönen
Gedenktage gratuliert haben, weil ich mein Muttchen ihre letzten 10
Lebensjahre ganz bei mir hatte und sie bis zu ihrem seligen Heimgang am
19.10.1945 allein betreuen durfte. Guten Kaffee und Apfelsinen, ihr
Lieblingsgebäck, gab es nachmittags und dann ging ich hinauf zu unserem
so schön terrassenförmig angelegten und wohl gepflegten, kleinen
Waldfriedhof, meinem Lieblingsort, meinem Heiligtum, und habe ihr dort
ihre Lieblings- und Heimatlieder gesungen und fühlte mich ihr so
nahegerückt auf den Gefilden der Seligen, hörte sie mit mir singen das
Psalmlied am kristallnen Meer: "Dies eine hat mich durchgebracht,
Lamm Gottes, das du wardst geschlacht!". Schöner konnten meine
anderen Geschwister, die zum Teil bei meiner ältesten Schwester in
Steglitz-Berlin zusammengekommen waren, auch nicht feiern. Etwas will es
mich ja doch oft noch bedrücken, dass ich nicht das teure Elterngrab,
das meines lieben Mannes und Bruders dort in der fernen Heimat, in
Elbing/Ostpr., mit Blumen der Liebe schmücken kann.
Wir schwer
es mir auch wurde dort unter der schrecklichen Polenherrschaft es mit
ansehen zu müssen, wie mein hoch betagtes, armes Mütterlein, dem ich
nichts zur Pflege verschaffen konnte, immer mehr zusammenfiel. Sie war
eigentlich nicht krank, nie bettlägerig mit ihren fast 94 Jahren und
geistig noch so frisch, wie kaum jemand in ihrem Alter. Auch hatte sie
sich ihre Fröhlichkeit, ihren goldenen Humor und ihr stets zufriedenes
Herz bewahrt, wodurch sie mich und viele andere Verzagten in der
Schreckensherrschaft immer tröstete und aufrichtete. "Haben wir
das Gute empfangen in unserem Leben, sollten wir das Böse nicht auch
hinnehmen?" Es gehörte wohl noch zu unserem Ausreifen.
Meine
Schwester Magdalene (Lenchen), die noch bei mir zu Besuch war, als die Russenheere
plötzlich unsere Heimatstadt Elbing Anfang 1945 von allen Seiten
einschlossen, konnte auch nicht mehr zu ihrer Tochter nach B. zurück,
und so war ich doch nicht so ganz allein in dem Haus, das schon vorher
von allen Einwohnern verlassen war. Wir wurden ja auch noch
aufgefordert, die Stadt zu verlassen, aber mein Muttchen bat immer:
"Lasst mich doch in der Heimat sterben!" Und wie ich den
schrecklichen Kanonendonner hörte immer lauter näherkommen und auch
von Frauen, die mit Handschlitten und etwas Habe darauf wieder nach der
Stadt zurückkamen, hörte, dass sie schon seien beschossen worden und
viele Tote auf der Chaussee liegen, beschloss ich, doch zu bleiben. Wo
sollte ich auch mit meinem Muttchen, das schon viele Wochen gar nicht
draußen gewesen war, hin in dieser Winterkälte und tiefem Schnee?
Unser tapferes Lenchen schaffte Betten, Decken, die Luftschutzkoffer mit
etwas Wäsche und Kleidern runter nach dem Keller, und ich packte meinem
Korb voll Lebensmitteln, nahm Lampe, Kerze und das Heizöfchen mit, und
wir richteten uns in den uns allein nun gehörenden Kellerräumen
häuslich ein. Hielten auch da unsere Abendandacht und befahlen uns dem
Schutz unseres allmächtigen, treuen Gottes an. Legten uns auch
angekleidet zur Ruhe, nachdem schon das Licht und Heizöfchen
ausgegangen waren durch den starken Beschuss. Plötzlich wachte ich
durch donnerähnliches Getöse und Schütteln des ganzen Hauses auf und
konnte kaum noch atmen, denn der ganze Keller war voll Schutt und
Rauchdampf ganz dunkel, trotzdem das Licht brannte. Wir glaubten, das
wir lebendig begraben sind. Wie sich der Schuttstaub aber allmählich
durchs geöffnete Kellerfenster verzog, war hier unten noch weiter kein
Schaden zu sehen, nur dass meine Weckgläser durcheinander gerollt waren
und der Brikettstoß umgestürzt war.
Bei Tagesgrauen ging ich
gleich hoch, um nachzusehen, was eigentlich passiert sei. Unter unserem
Schlafzimmerfenster war, 1 Mtr. vom Fundament entfernt, ein mächtiger
Granattrichter. Das Geschoss hatte die ganzen Fenster der Hausfront alle
rausgerissen, den Hausgiebel umgerissen und alle Wohnungen auf dem Ende
zerstört. In unserer Wohnung standen die verschlossenen Türen offen,
zersplittert, die Fenster zum Teil herausgerissen und die Glassplitter
im ganzen Zimmer verstreut. Die Küche war auch nicht mehr zu benutzen.
Aber ich kochte in der Waschküche unten Kaffee, damit wir uns etwas
erwärmen konnten und baten unser Muttchen, im Bett zu bleiben, denn es
war über Nacht so starker Frost eingetreten (22 Grad), wie mir die
Nachbarin sagte. Der Ofen im Schlafzimmer war heil geblieben und den
heizte ich nun, was er nur aufnehmen konnte, so dass es in der Röhre
immer kochte.
Inzwischen vernagelten Lenchen und ich das breite Fenster
mit Brettern, stopften alle Kissen und Decken in die Ritzen, nur dass
oben eine kleine Ecke Licht rein ließ. Trotzdem der Ofen glühte, fror
uns das Wasser, das wir uns aus den anderen Wohnungen noch holen
konnten, in den Eimern fest. Muttchen holten wir aber doch aus dem
dunklen Keller ins erwärmte Bett nahe am Ofen, und doch wurde sie nicht
warm. Da ging Lenchen Ausschau halten, ob wir vielleicht bei Bekannten
oder Geschwistern aus unserer Gemeinde Obdach finden könnten. Und ich
habe noch den feisten Hasen, den mir mein Sohn geschickt hatte, gebraten
und ein Brot gebacken. Immer im Pelz angezogen mit großer Schürze
über, anders hielt ich es nicht aus. Das Mittagessen war auch in der
Röhre fertig gekocht und so fütterten wir Muttchen abwechselnd, damit
sie gar nicht die Arme vornehmen brauchte unter dem Deckbett.
Schwester
Lenchen brachte die freudige Nachricht, dass Tante Horn, Fr. Prediger
Horn, verwitwete Sturm, geb. Kickstat, uns gerne aufnehmen will, damit
sie nicht allein in ihrem großen Hause ist. Es war an dem Tage ziemlich
ruhig, keine Schießerei zu hören, die Russen sollten zurückgeschlagen
sein. Wir packten nun unsere Betten und die nötigsten Sachen, auch
Lebensmittel zusammen und fuhren mehrmals nach der Sonnenstr. 72 mit
unserem großen Handschlitten. Zuletzt auch Muttchen mit drauf in Betten
gepackt.
Wie wohl fühlte sie sich gleich am warmen Ofen im hohen
Lehnstuhl mit der Wärmflasche unter den Füßen und neben ihr Tante
Horn desgleichen und sie klönten zusammen. Tante Horn sagte gleich
dass sie sich ums Wirtschaften nun gar nicht mehr kümmern wird und
überließ es mir alles, ich sollte nur immer etwas Gutes auf den Tisch
bringen. Das war mir vorläufig auch durchaus nicht schwer, da ich ja
einen feinen großen Vorrat noch im Keller hatte. Eingewecktes Fleisch,
Gemüse, Fruchtsaft, Marmelade, Honig, Eier, 2 große Schmalztöpfe,
Gurken, usw. alles noch von unserer 500 Morgen großen Wirtschaft bei
Pr. Holland, auch einen großen geräucherten Schinken, Wurst und Speck;
also auf längere Zeit guten Vorrat, von dem wir nun immer an ruhigen
Tagen im Schlitten rüber holten. Kartoffeln und Gemüse war auch dort
noch in allen Kellern reichlich vorhanden.
Die Tage blieben aber
nicht ruhig, im Gegenteil wurde die Schießerei aus der Luft und den
Kanonen immer stärker, manche Tage fast pausenlos, so dass wir erst
gegen Abend von einer Pumpe in der Nachbarschaft das nötige Wasser
holen konnten. Meistens behalfen wir uns mit Schneewasser. Es waren auch
schon mehrere Häuser in unserer Straße durch Bomben zerstört und
verbrannt, auch schlugen öfter in unserem Zimmer die Schrapnells durch
die Jalousien, die wir immer geschlossen hielten, in die Bilder an den
Wänden. Die oberen Etagen waren auch schon ganz zerstört und er
Hausgiebel heruntergesaust, wobei auch unser Zimmer wieder ganz voll
Schuttstaub war. Tante Horn wohnte in der Mitte geschützter und bekam
auch Licht durch die Veranda, die auch fast kein Glas mehr hatte. Mein
Aufenthalt war meistens in der Küche, weil ich für 15 - 20 Menschen,
die in unseren Kellerräumen Zuflucht gesucht hatten, mitkochen musste.
Mehrere
Frauen holten in ruhigen Stunden immer Lebensmittel ran, die in
verlassenen Häusern, Fleischer- und Bäckereien und Kolonialwarenläden
noch reichlich zu finden waren. Sonst hielten sich alle in dem
Luftschutzkeller Tag und Nacht auf, nur mein Muttchen und ich blieben
immer oben. Wie das Feuer immer näher kam und an der Straße gegenüber
auch schon mehrere Häuser brannten, ermahnte uns Tante Horn, auch
runter zu kommen, damit wir nicht lebendig begraben würden. Aber ich
hatte ja meine Arbeit mit kochen und backen und mein Muttchen saß bei
mir und betete immer, half mir auch, was sie noch konnte.
Doch in der 3.
Belagerungswoche wurde es ganz grauenhaft. Die Stalinorgel ging fast
pausenlos, immer 100 Schüsse hintereinander, dass man unwillkürlich
sich die Finger in die Ohren steckte und die Hände über dem Kopf
hielt, weil alles zu platzen drohte. Die ganze Innenstadt war nur noch
ein Feuermeer und immer wieder stürzten mehr Häuser in unserer Nähe
ein durch den Bombenhagel aus der Luft. Mein Muttchen war ganz ruhig und
betete weiter. Ich hatte gerade die Kartoffeln für das Mittagessen
aufgestellt, griff in den Salztopf auf dem Herd, da wurde ich durch
starken Luftdruck zur Seite geschleudert und das Geschoss hatte den Topf
zertrümmert und die Rückwand des Herdes zum Teil abgerissen. Ich bekam
aber das Mittagessen noch gut fertig gekocht, auch einen großen
Kochtopf voll Kaffee. Der wundervollen Kalbskeule im Bratofen war auch
nichts passiert.
Das war aber nun mein letztes Essen, das ich gekocht
hatte, denn gleich nachdem es runter gebracht war, sausten alle
Küchenveranden von 4 Stockwerken herunter und meine Küche war ganz
finster von Mörtel und Staub, so dass ich eine Weile nicht hinein
konnte. Mein großer Striezel war aber inzwischen schön gebräunt und
gar geworden im Bratofen, und ich packte nun einen ordentlichen
Futterkorb und ging mit meinem Muttchen warm angezogen auch nach dem
Luftschutzkeller, wo es schon durch mehrere herunter getragene Sessel
und Ruhebetten ganz gemütlich aussah, auch nicht zu kalt war, weil 2
eiserne Öfchen wohlige Wärme verbreiteten. Mein Muttchen war bald
eingeschlafen und ich habe auch nach langer Zeit eine Weile fest
geschlafen, weil das Getöse doch unten lange nicht so stark war.
Da
kamen auf einmal 20 deutsche Soldaten in unseren Keller, sich etwas zu
erwärmen und ich konnte ihnen zu ihrem trockenen Brot noch heißen
Kaffee geben. Sie sagten uns, die ganze Stadt wimmle schon voll Russen
und dass unser nächster Besuch wohl Russen sein werden. Inzwischen war
es Abend geworden und wir haben uns dann noch alle einmal satt gegessen.
So gegen 10 Uhr drangen die ersten Russen in unseren Keller mit dem Ruf
"Hände hoch!" und untersuchten uns alle nach Waffen, fragten,
ob wir deutsche Soldaten versteckt haben und nahmen uns Uhren und andere
Wertsachen ab. Wir waren ja fast nur Frauen und Kinder im Keller, nur
ein jüngerer Kriegsinvalide mit einem Arm, den sie schlugen, weil er
sich nicht schnell genug ausziehen konnte zur Untersuchung und dann noch
2 alte Männer. Schnell drangen noch mehr Russen ein und bedeuteten uns,
dass wir den Keller verlassen sollten und ins freie Feld gehen, denn die
ganze Stadt würde gleich brennen. Sie schleppten uns immer 2 und 2
durch die Durchlässe durch viele Häuser bis auf einen schon
ausgebrannten freien Platz, wo wir uns zu Vieren aufstellen mussten. Ich
wich nicht von meines Mütterleins Seite und Schwester Lenchen und Tante
Horn fanden sich auch zu uns durch das Gewühl der an 1000 zählenden
Obdachlosen. Wir dankten Gott für seine wunderbare Führung und
warteten der Dinge, die nun kommen sollten.
Der russische Lautsprecher
verkündete in deutscher Sprache: 1 Stunde Gefechtspause, in der sich
alle Einwohner (wohl 30 000 - 100 tausend hatte früher die Stadt) - auf
den angegebenen Plätzen sammeln sollten zum Abmarsch in die umliegenden
Dörfer und Güteranwesen, weil der Stadtkommandant immer noch die
Übergabe verweigere, würden nun die Straßenkämpfe einsetzen. Daher
seien die Bewohner aus der Stadt zu führen. Es war wohl um
Mitternacht, als wir unter Bewachung der Russen mit aufgepflanztem
Bajonett die Hindenburgstraße hinaufgeführt wurden bis zu den
Friedhöfen vor der Stadt. Da ließen sie uns stehen und sagten:
"Nun seid ihr in Russland!"
Es war Tauwetter
eingetreten und wir konnten in dem matschigen Schnee und in den von den
Geschützen tief ausgefahrenen Gleisen kaum vorwärts kommen. Mein armes
Mütterchen fiel öfter hin und da sie nur in warmen Hausschuhen war,
von denen einer bei dem Ziehen durch die Durchlässe noch
verlorengegangen war, waren ihre Füße patschnass. Lenchen und ich
führten sie und sanken auch in den tiefen Gleisen öfter mit um. Hinter
uns die an allen Enden brennende Stadt, ein riesiges Feuermeer und der
schreckliche Geschützdonner. Wir kamen uns vor wie Loth, der aus Sodom
flüchtete, sahen aber kein Zoar vor uns, sondern nur schwarze, dunkle
Nacht und verfehlten so auch unser Ziel, nach dem wir gewiesen waren.
Endlich beim Morgengrauen, erblickte ich, nachdem wir 4 Stunden
gewandert waren, den hohen Schornstein der Ziegelei Dambitzen, die doch
eigentlich nur 3 km von der Stadt entfernt liegt. Mein Muttchen brach am
Wege zusammen, und wir betteten sie auf einen am Wege liegenden großen
Schlitten ins Stroh und rieben ihre eisigen Füße. Da sah ich auch,
dass ihre Lippen ganz blau waren und die Augen tief eingefallen. Ich gab
ihr auf etwas Schnee Herztropfen, die ich in der Handtasche hatte. Das
sah ein russischer Offizier, der seinem Burschen die große Milchkanne
absetzen hieß und uns in seinem Trinkbecher etwas für Muttchen
hinhielt. Auch deutete er uns, dass wir in den großen Ringofen der
Ziegelei gehen sollten. Nachdem Muttchen sich etwas erholt hatte,
führten wir sie dort hin, wo ich sie vor einer noch eben abgebrannten
Kammer, der noch wohlige Wärme entströmte, auf einen Strohsack
bettete, den der Offizier durch einen Soldaten schickte. Also hatte Gott
uns doch nicht vergessen.
Nach einer Weile brachte derselbe
Soldat in einem Kochgeschirr noch heißen Kaffee für unser Muttchen,
den ich ihr mit etwas Weihnachtsgebäck, das ich in der Handtasche
hatte, immer schluckweise gab. Der Soldat stand und sah zu. Ich bat ihn,
uns doch etwas Brot zu bringen, da wir auch Hunger hatten. Er machte ein
gutmütiges Gesicht und winkte mir "Frau komm".
Oh hätte ich
seine Absicht geahnt! Tante Horn hörte mein Bitten und Weinen, wie er
mich immer weiter vor sich her schob, bekam es mit der Angst und ging
allein fort. Bald danach wurde auch meine um 10 Jahre jüngere
Schwester Lenchen abgeholt. Wir setzten uns nachher jeder zu einer Seite
auf Muttchens Lager und erwärmten sie durch unsere Körper, sodass sie
bald in einen ruhigen Schlaf fiel. Wir konnten uns nun still ausweinen,
fühlten uns so entwürdigt, entrechtet, ich fast 70 Jahre alt und der
Magen meldete sich auch. Mein schöner Futterkorb war ja im
Luftschutzkeller stehen geblieben.
Ich holte in einem Eimer, den ich
fand, sauberen Schnee vom Feld und wir steckten uns ab und zu etwas in
den Mund. Muttchen schlief lange und ruhig an der warmen Ofenwand, und
ich hatte auf einem Rundgang durch den Ringofen Matratzen und Betten
entdeckt, die ich zusammenschleppte, zum Lager für uns 4 Witwen. Auch
einen wackligen, kleinen Tisch fand ich und Sitzgelegenheiten baute ich
von 4-zoller Röhren mit aufgelegten Ziegelbrettern. War ich doch 19
Jahre Ziegelmeister-Frau gewesen. Lenchen hatte schon einen Eimer voll
klares Wasser aufgetaut. Am späten Nachmittag kam auch Tante Horn
wieder und oh Wunder, oh Wonne, sie brachte 2 Brote, 1 Pfund Margarine
und eine große Kerze mit. Alles hatte ihr ein junger Russe geschenkt
und sie wieder nach dem Ringofen gewiesen, damit sie nicht auf freiem
Felde friert. Zündhölzer hatten wir, brauchten also nicht mehr im
Dunkeln zu tappen und von dem Brot brachen wir uns immer Stücke ab und
klebten uns Stückchen Margarine rauf (doch nicht ehe wir uns die Hände
ordentlich mit Schnee abgerieben und Gott für diese Labung gedankt
hatten).
Tante Horn wehrte uns mit essen aufzuhören, da das
Brot wohl lange reichen muss, doch ich sagte, wir sind nun Gottes
Sperlinge und er vergisst uns nicht. Dann haben wir uns den 90. Psalm
aufgesagt und in Gottes Schutz befohlen und geschlafen so ruhig und
lange geschlafen unter dem Schutze des allmächtigen Vaters ganz
ungestört, noch die vorige durchwanderte Nacht nachgeholt. Oh, es ist
doch etwas Großes, Gottes Kind zu sein! Das Waschen mit frisch
gefallenem Schnee erfrischte uns wunderbar; auch unser Muttchen
verlangte danach, war Gott lob wieder frisch und fröhlich und dankbar
wie immer. Wir rechneten nach, dass es Sonntag sei, hielten unsere
Andacht nach unserem kalten Frühstück und da es ganz still war, kein
Schuss mehr fiel, ging ich mal sehen, wie es draußen aussieht.
Die
goldene Sonne funkelte auf dem frisch gefallenen Schnee, der all die
grauenhaften Spuren des schrecklichen Mordens und er Verwüstung so
rein, so unschuldsvoll zudeckte. Nur einige zerschossene Wagen und
umgelegte Geschütze stachen aus dem Schnee. Mich zog ein ganz in der
Nähe liegender umgekippter Flüchtlingsschlitten an, den ich auch halb
aufrichten konnte und da allerlei Schätze fand: einen Koffer mit
Weckgläsern, darin Schweinebraten, Wurst, Kochklopse, auch eingeweckte
Kirschen. Alle Gläser waren ja etwas kaputt, trotzdem sie in
Handtücher, die wir auch gut gebrauchen konnten, eingewickelt waren.
Auch ein großes Landbrot fand ich noch. Nun hatten wir ein richtiges
Sonntagsessen, wenn auch kalt und mit großer Vorsicht zu essen, wegen
der vielen Glassplitter. Wir dankten unserem reichen Vater im Himmel und
waren froh und guter Hoffnung.
Lenchen wagte sich auch etwas raus und
kam bald mit einem guten Messer, Gabel und Teelöffel zurück, die sie
gefunden hatte. Wir getrauten uns nicht weit von unserer Höhle zu
entfernen, weil die ganze Ziegelei voll russischer Bagage war, aber ich
fand doch noch ein paar alte Schuhe für Muttchen, die wohl viel zu
groß, aber doch mit Bindfaden zu befestigen gingen. Tante Horn
schmerzten die Füße sehr und sie getraute sich doch nicht die Schuhe
auszuziehen, weil wir immer in Angst waren, von den Russen weggejagt zu
werden. Gegen Abend merkten wir eine größere Gefahr. Die russische
Bagage rückte ab nach der Stadt zu. Es wurde unheimlich still, nur
einige Posten patrouillierten herum. Nachdem wir unser Abendbrot mit
etwas Schneewasser eingenommen, setzten wir uns auf unser Lager, sagten
mehrere Trostpsalmen und fingen leise an zu singen.
Da trat ein
Posten in unsere Höhle, störte uns aber nicht, sondern nahm die Mütze
ab und hörte still zu. Wir sangen noch eins ums andere der herrlichen
Trostlieder und waren gerade bei "Harre meine Seele"
angelangt, als der Posten wiederkam mit einem russischen Offizier, der
uns in gutem Deutsch fragte, wie alt wir sind und ob wir aus der Stadt
geflüchtet sind. Ich antwortete ihm nun bei Muttchen angefangen mit 93
Jahren, ich 68, Tante Horn 74 Jahre und Lenchen schwindelte sich noch 2
Jahre an, also 60 Jahre. Da sagte er ganz freundlich, ihr seid schon zu
alt zum Arbeiten, könnt morgen ruhig nach Hause gehen, die Stadt ist
fest in unserer Hand, es wird nicht mehr geschossen und nun singt ruhig
weiter. Gute Nacht! Ganz glücklich schliefen wir ein.
Ich war schon
recht früh im Halbdunkeln draußen und sah einige Frauen in der nahen
Küche, wo die Russen noch gestern geschmort hatten, Kaffe kochen. Oh
Wonne, sie gaben mir auch etwas ab und wir machten uns dann gleich
fertig zum Abmarsch. Ich schnitt aber noch schnell ein Stück, so 3 - 4
Pfund von dem großen Schweineschinken mit unserem großen Messer ab,
den ich vorne im Ofen auf einem Brett entdeckt hatte. Ja für so etwas
hatte ich immer offene Augen, war ich doch die Proviantmeisterin.
Lenchen band alles in die gebundenen Handtücher ein.
Wir fassten
Muttchen jeder unter einen Arm und wanderten der Heimatstadt zu. Ob wir
wohl noch ein Heim finden werden? Bei Tag und auf dem etwas gefrorenen
Weg ging es doch viel besser, als vor 3 Tagen in der grausigen Nacht. Es
war der 8. Februar heute, meines lieben Mannes Sterbetag, schon 3 Jahre
her. Eine Weile ging es ganz gut, meist immer bergab. Wir trafen andere
Flüchtlinge, die zur Stadt zurückkehrten und Russen treibende
Viehherden, die unterwegs immer junge Frauen und Mädchen zum Treiben
zwangen. Uns ließ man ungehindert. Muttchen drohte aber immer wieder
zusammenzubrechen und ich musste sie auf einem Steinhaufen etwas
ausruhen lassen, ebenso Tante Horn mit ihren wunden Füßen. Wir konnten
aber die Stadt, wenigstens rauchende Trümmer schon sehen und das gab
Mut. Ich summte: "Solang mein Jesus lebt" und nach dem Takt
ging es merklich leichter.
Der
Alte Markt mit dem am 23. Januar 1945 abgeschossenen Panzer der Roten
Armee vor dem Feinkostgeschäft Penner.
Bald erreichten wir die Stadt und sahen, wie
russische Soldaten immer aus den Reihen zurückkehrender Flüchtlinge
jüngere Frauen und Mädchen raus riefen zum Schuttaufräumen der
Straßen, die sie dann mit Kolbenstößen von hinten antrieben. - Oh
unsere ganze, reiche, schöne Stadt Elbing glich einem Gräuel der
Verwüstung, einem mächtigen Trümmer- und Leichenfeld, denn zwischen
den Trümmern sah man viele Leichen, besonders von Zivil durch
aufgesetzte hohe Zylinderhüte, grellfarbige Tücher und Schals, helle
Schirme in die erstarrten Hände gedrückt, richtig verschandelt. Tante
Horn und Schwester Lenchen gingen voran nach dem nahen Stadtfeld, um ein
weniger beschädigtes Haus für uns als Heimstätte zu finden.
Ich
bereitete auf einer Türschwelle mit Kleidern und Decken, die
haufenweise auf der Straße lagen, für Muttchen einen bequemen
Sitzplatz, wo sie den Rücken gegen die Tür gelehnt mit geschlossenen
Augen und blauen Lippen wie tot lag. Ein Offizier betrachtete uns eine
Weile, zog dann aus seiner Brusttasche ein Fläschchen Cognac und
reichte es mir. Ein großer Schluck belebte mein Muttchen wieder und nun
kam auch schon Lenchen ganz freudig zurück. Mit vereinten Kräften
brachten wir Muttchen in das nur wenig beschädigte Haus unserer Familie
Wittkowski, umgeben von einem schönen Garten, die nach
Pommern geflüchtet waren, was uns ein auf dem Buffet liegender Zettel
mit angegebener Adresse sagte. Lenchen räumte den kniehoch mit Scherben
und Papier bedeckten Fußboden auf und heizte gleich mit allem
Brennbaren den Ofen. Ich machte mich gleich ans Aufräumen der Küche,
die ebenso aussah wie das in der Mitte durch die Veranda geschützte
Esszimmer, das aber sogar heile Fenster hatte. Ich fand noch einige
Eimer voll Wasser vor, von dem ich zuerst für Muttchen und Tante Horn
heiße Wärmflaschen machte und dann beide in den Betten unterbrachte,
damit sie sich erwärmten und uns nicht im Wege waren.
Auf dem
Herd stand eine Schüssel voll wundervoll aufgeweichter weißer Erbsen,
die ich dann gleich mit einem Stück fetten Schinkenfleisch zum Kochen
brachte. Oh gab das ein herrliches, warmes Mittagessen, das erste nach 3
Tagen und im Herrenzimmer stand neben leeren Weingläsern noch ein
großes angebrochenes Glas eingemachter Birnen zum herrlichen Nachtisch.
Das war ein Labsal nach der Trübsal. Leider hatten wir in unserem Eifer
alle Vorsicht vergessen, die nach den Fasttagen wohl geboten gewesen
wäre, denn wir drängten uns bald alle um das kleine Häuschen auf dem
Hof. Nach dem guten Kaffee, den ich brühte, wurden wir aber guten Mutes
und bekamen bis zum Dunkelwerden noch das große Esszimmer, das wir uns
auf einem Ende mit herein geschobenen Ruhebetten und Bettgestellen auch
als Schlafzimmer einrichteten, noch ganz wohnlich hergestellt.
In
den anderen Zimmern waren fast alle Fenster demoliert. Die in der Küche
vernagelte ich mit Brettern bis auf die oberen Scheiben, die noch heil
waren und das Feuer im Herd und Ofen ließen wir gar nicht ausgehen, denn Brennung war genug vorhanden in den Ställen. Auf dem Tisch im
Herrenzimmer lag noch die große Prachtbibel aufgeschlagen und im
Bücherschrank fanden wir auch noch mehrere Bibeln und Andachtsbücher.
Da haben wir dann tiefbewegt unsere Abendandacht gehalten und unserem
treuen Gott gedankt, der uns noch solch gutes Obdach hat finden lassen.
Eben wollten wir uns zur Ruhe legen, als es gegen die Haustür klopfte
und zurückkehrende Flüchtlinge, durch unseren schwachen Lichtschein
angelockt, bei uns Unterkunft zur Nacht begehrten. Ich ließ sie in die
warme Küche mit ihren drei Kindern, und sie schleppten sich Sessel aus
dem Herrenzimmer und richteten sich zur Nacht ein. Sie kochten und polterten
noch die halbe Nacht. Am Morgen zogen sie ab, um sich in anderen
verlassenen Häusern eine Wohnung einzurichten. .
Im Giebel
unseres jetzigen Hauses wohnte oben noch eine Witwe, die uns gleich
morgens begrüßte, Tante Horn gut kannte, da sie ihre Reinemachefrau
gewesen und sich nun freute, dass sie nicht mehr allein im Hause wohnte.
Mit ihr ging ich dann auch auf die Straße, wo vor den Kolonialwaren-
und anderen Geschäften recht viel Lebensmittelwaren verstreut, halb
ausgeschüttet im Schnee lagen. Wir packten in unseren Korb, was noch zu
gebrauchen war. Am nötigsten fehlte ja Mehl zum Brotbacken. Aber da
entdeckte ich auch in einer zerschossenen Bäckerei die Brottröge noch
mit Mehl gefüllt, auch einen ziemlichen Sack Weizenmehl und Büchsen
mit Zucker. Ich schnell zurück, den kleinen Handwagen aus dem Stall
geholt und mein ängstliches Schwesterlein zum Mitkommen überredet. Wir
hatten mit viel Mühe, aber ganz unbehelligt, alles aufgeladen, bogen
mit unserem Wagen um die nächste Straßenecke, wo wir mehrere Frauen
mit Handschlitten sahen, die die vor dem Gasthaus liegenden Leichen von
10 - 12 Hitlerjungen umdrehten, um ihre jungen Söhne sich auszusuchen
und zu beerdigen. Mein Lenchen wollte schon schwach werden, aber ich
sagte: "Nun komm schnell, dass wir nach Hause kommen, es ist doch Krieg."
Die
Nordfassade der Hl. Leichnamkirche in der Horst-Wessel-Straße (früher
Hl. Leichnamstraße), links die Ruine des Gemeindehauses
Niemals bekam ich sie mehr dazu, mit mir auf die Straße zu gehen. So
zog ich öfter noch mit Frau Muhs, unserer Mitbewohnerin los, auch nach
einer zerschossenen Mühle, vor der das Getreide, Roggen und Weizen
haufenweise im Schnee lag, wo wir es mit Schaufeln in unsere Säcke
taten und zuhause siebten, um Schmutz und Glassplitter zu entfernen,
dann auf dem Ofen trockneten und mit der Kaffeemühle mahlten und wunderschönes
Brot backten, das wir durch Beimischung von geriebenen, gekochten
Kartoffeln, von denen wir in unserem Keller einen großen Vorrat fanden,
noch streckten. Auch fand ich in unserem Garten unterm Schnee noch
mehrere, ganz frisch erhaltene Schweineschinken und andere
Fleischstücke, die wohl von Geschossen, die das nicht weit entfernte
Schlachthaus getroffen, bis hierher geschleudert waren. Also hatten wir
vorläufig einen schönen Vorrat.
Nun kam aber auch der erste
Russenbesuch. 3 Fliegeroffiziere, die versprengt waren und mich recht
höflich um warmes Essen baten, das ich ihnen dann schnell bereitete.
Bratkartoffeln mit Speck und Schinken und heißem Kaffee. Sie dankten
sehr und haben uns weiter gar nicht belästigt, sagten nur, dass die
Stadt jetzt richtige Besatzung bekommt und wir sollen unsere Tür
bessern versichern. Ja, aber wie? Das Schloss war aus der Tür
rausgesägt. Wir nagelten ein Brett auf und eine starke Eisenkrampe mit
starkem Haken ans Türgerüst, dass wir sie immer fest zuhaken konnten.
Wir tarnten auch den Kellereingang, der sich in der Veranda befand mit
Kinderwagen, Kisten mit zerbrochenem Geschirr, Packkartons mit allerlei
Kleidungsstücken und Weihnachtsbaumschmuck, alles was so umher lag. Ja,
aber die vielen zerbrochenen Fenster? Na, in den ersten Tagen ging es
noch. Tante Horn bat mich, doch einmal nach ihrem Haus zu sehen und
etwas von Kleidung und besonders warme bequeme Schuhe mitzubringen, da
ihre Füße wund und stark geschwollen waren.
Ich fand das Haus noch
leer, nur im Luftschutzkeller war eine von den beiden alten kranken Damen,
die sich versteckt gehalten, als Leiche und die andere hatte unseren
Proviantkorb leer gemacht und kochte sich etwas in der Küche. Unsere
Luftschutzkoffer waren auf einem Haufen Kohlen ausgeschüttet, aber ich
fand doch noch fast alles von Wäsche und Kleidungsstücken, auch zu
meiner großen Freude meines Mannes Taschentestament und sein Bild
darin. Auch Tante Horns gewünschte Sachen noch und Salbe für ihre
Füße. Andern Tags ging sie noch selbst und sorgte für die Beerdigung
ihrer alten Einwohnerin, ahnte wohl kaum, dass dies ihr letzter Gang
war. Ihre wunden Füße wurden trotz täglichen Badens und Bepflasterns
nicht besser, im Gegenteil zog sich die Geschwulst immer höher hinauf,
sodass die ganzen Beine unförmig wurden. Die Druckstellen hinterließen
Löcher und da sagte sie, das ist Wasser, das wird mein Tod sein. Ich
kannte so etwas nicht. Mein Muttchen war wieder recht frisch
geworden für ihr hohes Alter und geistig auch noch recht rege, wollte
immer etwas zu tun haben.
Ausschnitt
aus dem Elbinger Stadtplan von 1945. Unten ist die Sonnenstraße zu
sehen, im dem das Wohnhaus von Prediger Horn stand und am oberen
Bildrand die Baptistenkirche in der Horst-Wessel-Straße.
Am Sonntag gingen Lenchen und ich mal sehen,
wie es unserer Kapelle in der Horst-Wessel-Straße ergangen ist. Sie war
auch wenig zerstört, nur der Giebel mit Jugendsaal und Predigerwohnung
war durch ein großes Geschoss beschädigt und auch die Orgel etwas.
Aber alle Bücher lagen beschmutzt zerstreut umher und in der
Gemeindeküche war alles Geschirr schmutzig und viel zerbrochen. Auf dem
Rückweg standen wir vor unserem völlig ausgebrannten Haus. Da kamen
mir doch die Tränen, wie ich von all den wertvollen Andenken nichts
mehr sah, als Trümmer und Asche. Doch es stand ja kaum noch ein Haus in
der Straße. Der Keller schien noch unversehrt. Doch der Nachbar warnte
mich runterzugehen, da unten alles schwelte und die Decke einzustürzen
drohte. Also lass fahren dahin, das ist der Krieg. Muttchen und Tante
Horn hatten sich schon gesorgt, weil wir so lange fort blieben, aber wir
hatten auf dem Wege noch Geschwister aus unserer Gemeinde getroffen und
uns verabredet, nächsten Sonntag bei uns zum gemeinsamen Gottesdienst
zusammen zu kommen, um uns gegenseitig zu stärken. Muttchen und Tante
Horn hatten, während sie ihre Morgenandacht gehalten, auch Besuch
bekommen von 2 jungen Russen, die sie aber weiter nicht belästigt
hatten. Doch es kam bald anders.
Eines Nachts drangen 3 Russen durch die
Verandafenster ein, leuchteten uns mit ihren Stinkfackeln ins Gesicht
und unter die Betten, um, wie sie vorgaben, deutsche Männer zu suchen.
Gingen dann aber ohne uns zu belästigen nach der Küche, wo ich sie
eine ganze Weile herumhantieren hörte. Nachdem alles still geworden und
ich nachsehen ging, sah ich die Schränke offen stehen, der große
Steintopf mit Zuckervorrat war leer, das Gänsefett fort und der schöne
Bienenhonig und 2 Pack Zündhölzer, dazu der Tisch voll schmutziges
Geschirr. Von da an habe ich nichts Essbares mehr in der Küche
gelassen. Nun verging kaum noch ein Tag oder eine Nacht, wo wir nicht
Russenbesuch bekamen.
Die Haustür war fest, aber sie brachen mit dem
Seitengewehr die vernagelten Fenster immer wieder auf und standen
plötzlich vor uns, packten Kleider und Wäsche in Bündel zusammen,
suchten auch nach, ob wir in den Betten etwas versteckt hatten. Gaben
immer vor, deutsche Männer zu suchen, die wir versteckt halten.
Manchmal konnten wir uns durch laute Hilferufe retten, aber meistens
kehrten sich die auf der Straße gehenden Soldaten auch nicht daran.
Offiziere mit ordenbesteckter Brust kamen mit ihren Burschen, suchten
zuerst alles nach Silbersachen und Kristall nach und wenn auch jeder
Löffel einzeln versteckt war in und auf den Öfen, sie fanden alles.
Unsere arme Tante Horn konnte kaum noch etwas gehen, die Geschwulst zog
sich immer höher, sodass sie einen ganz unförmigen Umfang bekam, aber
sie diente als rechte Priesterin noch immer bei unseren sonntäglichen,
wie Morgen- und Abendandachten. Ein gläubiges älteres Fräulein war
noch zu uns in eine obere Wohnung gezogen. Auch aus der Nachbarschaft
Frau Frost mit ihrer alten Mutter, welche die Russen, oder vielmehr
jetzt noch Polen aus ihrem schönen Eigenheim verwiesen hatten. Nun war
unser Haus gut besetzt, wenigstens die bewohnbaren Räume. Es war
inzwischen auch Frühling geworden und unsere Hoffnung, dann schon
erlöst zu sein von der Schreckensherrschaft, hatte sich nicht erfüllt.
Wo werden unsere Lieben sein? fragten wir oft bange. Ach wie schwer ist
es doch, ganz ohne Nachrichte, immer in Ungewissheit zu sein.
Die Russen
und Polen sorgten nicht im geringsten für uns, sondern beraubten uns
weiter Tag und Nacht. Die Polen waren darin noch viel schlimmer und
hinterlistiger, besonders auch die zerlumpten, schmutzigen Weiber. Eines
Sonntags, gleich nach Mittag, gehe ich Frau Heise besuchen, um sie
zu trösten über die Verschleppung ihres Mannes, von dem sie noch immer
nichts weiß. Es ist ganz unheimlich still in der Gr. Wunderbergstraße.
Ich begegne keinem Menschen, erreiche auch so die etwas versteckt
liegende Wohnung am Berg und wundere mich, dass alle Türen in den
Stuben offenstehen.
Wie ich ganz still wieder zurück gehen will,
vertritt plötzlich ein Russe mit aufgepflanztem Bajonett mir den Weg
und sagt: "Mitkommen!" Ich bat ihn, lass mich nach Hause gehen
zur kranken Mutter. Er stieß mich mit dem Gewehrkolben vor sich her zur
Straßenecke, wo er noch mehrere Frauen mit kleinen Kindern, auch einige
ganz alte Männer mit mir auf einen großen, von lauter Ruinen umgebenen
Hof trieb, wo schon recht viele Frauen, alte und auch junge mit ganz
kleinen Säuglingen in Kinderwagen, auch Greise und Kriegsinvaliden mit
Krücken oder einem Arm, auch Blinde standen und in dem scharfen
Nordostwind zitterten und weinten. Wir neu zugekommenen wurden erst noch
von 2 Kosaken auf Wertsachen untersucht. Ich bat, wieder nach Hause
gehen zu dürfen zu meinen Kranken, wurde aber weiter auf den Hof
gestoßen und hörte von den anderen Frauen, dass viele schon von
morgens an hier unter Bewachung stehen und lange hungern und frieren mit
den kleinen Kindern. Die Posten sagten uns, wir müssen warten bis
Offizier kommt. Endlich nach 3 Stunden gegen 6 Uhr abends, kamen 3
Kosakenoffiziere auf den Hof geritten, grüßten höhnisch grinsend mit
"Heil Gittler", was aber niemand beachtete. Dann hießen sie
uns auf der von allen Enden verbarrikadierten Straße zu Vieren
aufstellen, links die alten Leute und Krüppel, rechts die jungen Frauen
und großen Jungen. Die Offiziere ritten entlang und sortierten. Dann
wurden die rechts stehenden unter starker Bewachung abgeführt und zu
uns sagten sie: "Ihr könnt nach Hause gehen".
Ich
wurde meine drei schreienden Kinder schnell los, weil ihre richtige Oma
sich ihrer annahm, aber auf meinem eiligen Heimweg hörte ich noch lange
das Wehklagen und Schreien der Mütter und Kinder. Meine Lieben zuhause
fand ich in großer Besorgnis um mein langes Fortbleiben und sie wollten
mich nicht mehr allein gehen lassen. Zu unserem Friedhof kam anderntags
Lenchen mit und wir reinigten und bepflanzten unsere Gräber mit
Blumenstauden, freuten uns, dass die Grabsteine gar nicht beschädigt
waren wie an vielen anderen Gräbern. Die Leichenhalle war ganz von
einschlagenden Geschossen verwüstet. Da habe ich Gott wirklich von
ganzem Herzen gedankt, dass er meinen teuren Mann vor dieser
Schreckenszeit noch abgerufen hat. Wir sind ja nun immer Tag und Nacht
in Ängsten unter dieser Schreckensherrschaft und Willkür der Feinde.
Jeden Abend legen wir uns ganz in Gottes Erbarmen, flehen um seinen
allmächtigen Schutz und doch vergeht kaum eine Nacht, ein Tag, wo wir
nicht belästigt und gequält werden, auch öfter noch vergewaltigt.
Aber wir ringen uns immer noch durch zu dem trotzigen
"Dennoch" und wollen der Verzagtheit nicht Raum geben. Unser
Vater weiß und sieht alles, er weiß auch, wie lange noch. Er schickt
uns dann auch wieder einmal eine Stärkung.
So besuchten uns vorigen
Sonntag Herr und Frau Rehrmann, die nach Danzig geflüchtet und nun
zurückgekehrt waren. Auch ganz arm geworden, nur mit den Kleidern, die
sie auf dem Leibe trugen, aber doch reich in Gott. Herr Rehrmann hielt
uns eine gesegnete Andacht und wir beteten alle zusammen, ohne gestört
zu werden. Oh, wie stärkt doch die Gemeinschaft.
Tante Horn
konnte nur noch wenig auf sein, ihr Körper wurde immer schwerer und die
Luft knapper. An schönen Tagen führte ich sie noch etwas in dem Garten
umher, in dem jetzt alles so schön schon blühte. Duftende Veilchen in
großer Fülle, Krokos, Vergissmeinnicht, schöne Ziersträucher und der
Flieder hatte so dicke Knospen. Lenchen hielt den Garten schön sauber
und unser liebes Muttchen sonnte sich so gern an der geschützten
Hausecke. Oma Tolk lag krank und ihre Tochter, Frau Frost, fühlte
sich auch elend.
Ein paar Polenweiber wollten Betten kaufen, oder
vielmehr stehlen, denn sie gaben nur wenige Zlotys, aber noch einige
Eier und Speck, sagten, sie brauchen nur das Inlett zur Maifeier. Na,
das war erst ein Aufzug. Überall mit rotem Bettinlett bezogene Säulen,
die große bekränzte Schilder trugen, hatten sie aufgestellt. Besonders
vor der russischen Kommandantur einen ganzen Wald auch solch lumpiger
Fahnen. Mit schrecklichem Gejohle zogen betrunkene Russen und Polen
durch die Straßen, die voll Schutt, Federn und Papierfetzen lagen, drei
Tage lang. Nachts hörten wir öfter wüstes Geschrei, auch Schießen
von Russen und Polen, die in Streit geraten waren. Auch wollten sie uns
durch Kolbenstöße zum Öffnen der Haustür zwingen und da wir das
nicht taten, versuchten sie wieder durch die vernagelten Fenster
einzudringen. Wir schrien zu Gott in unserer Not und er hat seine
Engelwacht um uns gestellt. Auch diese schlimmen Tage und Nächte gingen
hin, ohne dass wir ernstlichen Schaden erlitten.
Danach wurden alle
Frauen geholt zum Straßen säubern. Oma Tolk wurde durch den
typhusartigen Durchfall, von dem wir alle erfasst wurden, so schwach,
dass wir ihr Ende nahen sahen. Mein Muttchen, die älteste mit ihren 93
Jahren, machte den Vorschlag, dass wir 2 Tage lang fasten wollen, nur
etwas schwarzen Tee und harten Zwieback, den wir noch hatten, genießen
sollten. Da schrieb ich ganz groß an unsere Haustür "Typhus"
und wir hüteten das Bett. Ich nur einen Tag, denn am Abend ging Oma
Tolk ganz sanft heim. Sie hatte sich mit ihren 85 Jahren auch schon so
danach gesehnt, weil sie schon jahrelang leidend war. Nun blieb aber
ihre Tochter, Frau Frost, fest zu Bett liegen. Da musste ich gesund
sein und stark. Ging zum Totengräber des nahen Annenfriedhofs, der
versprach, die Leiche zu beerdigen, wenn ich sie in die Leichenhalle
schaffe. Dabei half mir wieder die tapfere Frau Muhs von oben. Wir beide
fuhren mit unserem Handwagen die in ein Bettuch eingewickelte Leiche den
steilen Berg hoch zum Friedhof, wobei wir aber öfter Station machen
mussten. Wo sie ihre letzte Ruhestatt gefunden hat, weiß ich nicht,
denn der Totengräber hat sie am anderen Tag still beerdigt. Gott weiß
es und wird sie auch rufen am großen Auferstehungstag. Er gab auch mir
Kraft, meine lieben Kranken zu betreuen.
Ich ging zu einem polnischen
Arzt, der mir Kohlenstifte gab und mir sagte, dass ich in jedes Essen
pulverisierte Holzkohle tun soll, die ich mir dann selbst abbrannte.
Seine Frau gab mir für eine große Kristallschale mit 12 kleinen
Schälchen ein weißes Brot und 1 Pfund Gries für meine Kranken. Mein
Muttchen und Lenchen waren nach einigen Tagen wieder munter, aber Frau Frost lag 6 Wochen lang, zum Skelett abgemagert. Ich gab immer
Holzkohle und endlich konnte sie doch wieder aufstehen und da sie noch
einen Geldvorrat versteckt hatte, konnte ich sie auch pflegen, denn die
Polen hatten schon überall Lebensmittelgeschäfte eingerichtet und
hielten auch auf dem Markt allerlei Waren feil. Mir hatten die Polen
alles, was ich noch hatte, in einer Nacht gestohlen, sogar die Kleider
vom Stuhl am Bett, auch Muttchens Sachen. Am Morgen fand ich noch einige
Stücke, die sie beim Klettern durch die Veranda verloren hatten, aber
Muttchen musste im Bett bleiben, bis ich ihr etwas zurechtgeschustert
hatte.
Lenchen hatten sie auch fast alles geraubt und sie fasste den
Entschluss, gleich nach dem Pfingstfest zu Fuß bis Bischofsburg zu ihrer
Tochter zu wandern, die in dem Monat ein Kindchen erwartete, um ihr
beizustehen. Der Abschied wurde uns recht schwer, glaubten wir doch kaum
noch, auf ein Wiedersehen hoffen zu dürfen. Mit einer kleinen Schrotkarre zog sie mit ihren geringen Habseligkeiten, einem halben
Brot, einer kleinen Flasche Saft ohne einen Pfennig Geld 250 - 300
Kilometer zu Fuß los. Ob sie je ans Ziel kommen wird? Unsere Gebete
begleiteten sie Tag und Nacht. Wir waren ja so vollkommen von aller Welt
abgeschlossen, konnten keine Briefe schreiben und bekamen auch nie eine
Nachricht nun schon 1/2 Jahr lang. Aber wir 4 Witwen waren ganz auf Gott
gestellt und durften es auch erfahren, dass er ein Fels ist ewiglich.
Nach mehreren ruhigen Nächten haben wir unserem treuen Gott immer noch
unsere Lob- und Danklieder gesungen, oft zwar auch ein
"Halleluja" unter Tränen.
Tante Horn kann nicht mehr mit
einstimmen mit ihrem schönen Alt. Hat großen Luftmangel, weil das
Wasser immer höher steigt. Ich helfe ihr noch jeden Tag auf den großen
Lehnstuhl, in dem sie kaum noch Platz zum Sitzen hat. Wenn sie die
Hände auf den Tisch legt, quillt das Wasser aus den Armen und die
Bettunterlagen muss ich täglich waschen. Wäsche habe ich immer viel zu
besorgen, auch für Frau Frost, die sich gar nicht recht erholen
will. Mein tapferes Muttchen sitzt dann immer auf dem Wäscheplatz im
Garten und hütet die zum Trocknen gehängte Wäsche, schreit und
schimpft, wenn die Polen sie stehlen wollen. Ich finde ja noch immer
wieder etwas in den Kellern verlassener Häuser, unter Trümmern und
Schutt, aber es ist auch so eklig verdreckt und kostet erst Kraft und
Seife, ehe es zu brauchen ist.
Niemals habe ich geglaubt, mit meinem
kranken Herzen noch das zu leisten, was ich jetzt an schwerer Arbeit tun
kann, trotz all der Angst und Schrecken und vielen Entbehrungen. Wir
haben doch noch nie einen Tropfen Milch gehabt, schon lange mehr kein
Fleisch, nur etwas Fett zu Soßen zu unseren prachtvollen Kartoffeln
kann ich sonntags noch machen. Aber viel eingemachtes Obst ist im Keller
und wunderbar schmecken Kartoffeln mit Stachelbeersuppe. Von unserem
getrockneten Getreide mahlen Muttchen und ich noch immer zum Brotbacken.
Auch brachte uns ein Russe, der ein Plüschsofa holen kam, einen
schönen Beutel voll Mehl dafür. Wir sind jetzt ganz auf Gott gestellt
und stehen uns nicht schlecht dabei. Tante Horn hat öfter Verlangen
nach einer kräftigen Fleischbrühe. Da bekomme ich, wenn ich recht
früh gehe, nach langem Anstehen manchmal ein paar Knochen oder etwas
Pferdefleisch in dem Polen-Fleischerladen von einem freundlichen
Fräulein, dem ich immer einen schönen Blumenstrauß aus unserem
Garten, oft noch in netter Vase, mitbringe. Auch Frau Heise, die
jetzt in ihrem früheren Geschäft für einen nicht zu schlechten Polen
die Fleisch- und Wurstwaren verkauft, verwahrt mir manchmal etwas
Abfälle und ich bin so froh, meinen Kranken, sowie meinem betagten
Mütterlein öfter einmal kräftiges Gemüse kochen zu können.
Den
Gemüsegarten hatte meine Schwester Lenchen noch bepflanzt, auch einen
halben Zentner Kartoffeln auf dem angrenzenden Acker. Die Polen lassen
ja alles brach und verkrautet liegen, rauben nur aus unseren bestellten
Gärten. So muss ich schon immer beim Morgengrauen alles halb
ausgewachsene Gemüse, Beeren usw. nehmen. Von den jungen Frühkirschen
haben sie die Kronen abgeschnitten, ehe sie noch rot waren. Die
wunderschön voll tragenden Erdbeerbeete ganz zertrampelt. Oh, es ist
zum Weinen über diese Verwüstung.
Tante Horn bat mich, doch wieder
einmal nach ihrem Haus und Garten zu sehen. Der Garten war ja arg
verwüstet, voll zerbrochener Möbelstücke, Scherben und sonstigem
Unrat. Das Haus, wenigstens die untere Wohnung fand ich ziemlich in
Ordnung und auch bewohnt. Herr Meißner, Tante Horns Schwager, hatte die
von ihr bewohnten Zimmer mit der Hilfe eines geschickten Mannes ganz
ordentlich zurecht gemacht und wohnte nun mit seiner Frau (beide schon
81 Jahre) und der früheren Haustochter, jetzt Tante Annchen genannt,
ganz schön darin, weil ihr eigenes großes Haus in der
Horst-Wessel-Straße auch total ausgebrannt war. Die andere Seite
bewohnte ein liederlicher, auch widerlicher Pole, der bei der russischen
Stadtverwaltung angestellt war und nur abends nach Hause kam. Die Frau
konnte ziemlich fließend deutsch sprechen und war auch nicht so
schlecht.
Tante Horn wollte gerne noch zurück in ihr Haus, um da zu
sterben, aber es war unmöglich, sie so weit rüber zu transportieren.
Sie konnte kaum noch etwas mithelfen und ich bekam sie nur mit
größter Kraftanstrengung auf den Stuhl. Auch nachts rief sie mich
immer mehrmals dazu, weil sie sauber bleiben wollte bei dem
schrecklichen Durchfall nun schon wochenlang. Mein Rücken war schon
ganz auseinander, zerschlagen und zerhackt. Aber Gott gab mir immer
wieder Kraft für jeden neuen Tag, ich war mir selbst ein Wunder mit
meinen 68 Jahren, wo ich vor 3 Jahren durch den fast täglichen
Herzkrampf bei geringster Anstrengung so hilflos war, dass ich mich von
meinem betagten Mütterlein noch musste bedienen lassen. Ach, es ist
doch etwas Großes, einen so allmächtigen Helfer zu haben. Herr
und Frau Meißner besuchten Tante Horn öfter und brachten ihr auch manchmal
etwas zur Stärkung, aber Herr Meißner wurde auch von dem schrecklichen
Durchfall erfasst und seine Kräfte nahmen sehr schnell ab. Ende Juli
bestatteten wir ihn zu letzten Ruhe auf unserem Baptistenfriedhof, wo er
schon sein eingefriedigtes Erbbegräbnis hatte.
Der geschickte
Mann, der ihm immer geholfen, hatte ihm aus einem Unterteil vom
Kleiderschrank noch einen engen Sarg gezimmert, den wir mit mehreren
Kränzen geschmückt hatten. So hatte er doch noch ein einigermaßen
würdiges Begräbnis, bei dem ihm Herr Rehrmann noch liebe, anerkennende
Dankesworte nachrief, da er doch der Erbauer unserer schönen Kapelle
(in finanzieller Hinsicht) war. 14 Tage nach dem 8. August 1945 wurde
auch unsere liebe allverehrte Tante Horn von ihrem so schweren Leiden
erlöst. Die letzten Tage war es so furchtbar, dass Muttchen und ich nur
immer mit ihr selbst flehten "Mach End, oh Herr, mach Ende".
Mein Muttchen saß immer treu an ihrem Bett und wehrte ihr die lästigen
Fliegen ab, sagte ihr Trostsprüche und sang ihr mit ihrer immer noch
schönen Stimme Heimatlieder, in die Tante Horn noch manchmal mit ihrem
schönen Alt einstimmte.
Die letzten beiden Tage wollte sie außer
Saftwasser nichts mehr genießen, wo sie doch so lange immer schon auf
das Essen wartete. Da musste mir Fr. Muhs von oben auch immer beim
Trockenlegen helfen, denn das stinkende Wasser drang aus Beinen und
Armen und ich konnte den ganz unförmig geschwollenen Körper nicht mehr
allein regieren. Brust, Hals und Gesicht war alles dick angelaufen und
das Atmen so schwer. 24 Stunden lang stöhnte sie nur immer noch:
"Oh, mein Herr, oh meine Martha!" Ich ging nachts noch
mehrmals ihre Lippen anfeuchten mit nassen Läppchen. Gegen Morgen wurde
das Stöhnen immer schwächer und ich bin wohl auch etwas eingeschlafen.
Wie ich um 5 Uhr früh wach wurde, war alles still und ich fiel gleich
an Tante Horns Bett auf meine Knie nieder und dankte unserem
barmherzigen Heiland, dass er sie nun endlich von dem schrecklichen
Leiden erlöst hat in die Wohnungen des Lichts. Weckte dann Frau Muhs
und wir wuschen den noch warmen Körper und zogen das noch so
sorgfältig versteckte Sterbehemd an. (Muttchens und meines hatten die
Polen uns schon gestohlen). Den Fußboden im anliegenden leeren Zimmer
hatte ich schon tags zuvor gesäubert. Darauf breiteten wir eine große
starke Decke mit weißer Bettdecke und nun lieber Gott hilf uns armen
schwachen Frauen und wir schafften es, den schweren Körper die paar
Schritte bis ins anliegende Zimmer zu tragen und nicht zu unsanft auf
die mit Sand beschütteten Dielen in Decken gewickelt niederzulegen.
Während Fr. Muhs gleich alle Sachen wusch und zum Lüften raus trug,
passte Muttchen auf, dass nichts gestohlen wurde und wiederholte immer
die Worte "Typhus, Tod", davor hatten die Polen Furcht. Ich
ging, den Tod bei der Kommandantur melden und bat, dass die Leiche doch
schnell sollte abgeholt werden, aber erst am anderen Morgen kamen drei
Männer mit einem alten Gaul an kleinem Wagen. Ich bat die Leute, die
Leiche doch bis zu unserem Friedhof zu bringen, damit Tante Horn neben
ihrem Gatten, unserem langjährigen, treuen Prediger Horn, ruhen könne.
Aber sie sagten, das ist unmöglich und wählten den allernächsten Weg
zum neuen Annenfriedhof, wo sie das Grab gleich am Tor gemacht hatten.
Während sie die Leiche raus trugen, goss immer das Wasser von ihr auch
durch den Wagen.
Ausschnitt
aus dem Elbinger Stadtplan von 1945. Der St.-Annen-Friedhof befindet sich
nordöstlich von der Sonnenstraße und der Baptistenfriedhof liegt
beim Johannisfriedhof unterhalb der Hindenburgstraße am Baumschulenweg
(rechts unten).
Tante Horn hatte noch immer etwas Geld zu ihrem
Begräbnis bei sich im Bett versteckt, und so konnte ich die deutschen
Männer und auch Frau Muhs bezahlen. Nachmittags, als wir alles sauber
gemacht hatten, gingen wir beide Frauen noch das frische Grab mit
selbstgewundenen Kränzen und Blumen schmücken und haben Gott für die
Erlösung gedankt und unserer teuren Entschlafenen das von ihr
gewünschte Lied "Lass mich gehen usw." gesungen. Ihre Kinder,
Dr. Dienels, Berlin-Steglitz konnte ich ja nicht benachrichtigen, auch
niemand sonst von den Verwandten, nur Herr und Frau Rehrmann und Frau Meißner. Die letzte Ruhestätte weiß aber nur ich allein. Doch mein
Christus, der große Lebensfürst wird auch sie einst rufen zur großen
Siegesfeier. Es bedrückt mich doch sehr, dass ich dieser stattlichen,
geistig so hoch stehenden Predigerfrau, die mir liebste Freundin war und
mir so manchen Segen vermittelte, kein würdiges Begräbnis bereiten
konnte. Mein liebes Muttchen wäre am liebsten auch gleich heimgegangen,
meinte, mit ihr ist es nun doch höchste Zeit. Aber ich sagte, dass ich
an ihr jetzt die im letzten halben Jahr ganz versäumte Kindespflicht
erst noch nachholen will.
Wir hatten auch fast 14 Tage Ruhe vor den
Polen, die den Typhus fürchteten. Den Zettel ließ ich immer noch an
der Haustür, denn Frau Frost war immer noch sehr schwach. Ich
verkaufte an eine ziemlich anständige Polenfrau gutes Porzellan und
Kristall, was ich in Kisten verpackt noch vorfand (leider war vieles
schon kaputt). Bekam dafür Geld (Zlotys) auch etwas Lebensmittel und
konnte mir zweimal wöchentlich 1/2 Liter Milch für mein Muttchen zur
Suppe holen. Wir erholten uns beide, ebenso Frau Frost. Ich sehe
noch Muttchens glückstrahlendes Gesicht, wie ich ihr einmal ein
frisches, knuspriges Brötchen mitbrachte, das sie über 1/2 Jahr nicht
mehr gesehen hatte. Sie freute sich wie ein Kind. Mein selbstloses
Muttchen war ja auch nun mein Kind, mein einziges Kleinod noch. Wir
hatten nun Kraft sammeln können für den neuen Überfall, der uns
bevorstand.
Kommt eines Tags ein recht wild aussehender Russe durch das
Verandafenster geklettert, guckt sich um, was noch zu rauben wäre und
da er nichts Wertvolles mehr entdeckt, geht er auf mein am Ofen
sitzendes Muttchen zu und will ihr das schöne, wollene, selbstgestrickte
Tuch von den Knien reißen. Weil sie es mit einer Hand festhält, holt
er gleich mit dem Gewehrkolben aus, um sie zu schlagen. Ich springe
sofort dazwischen, fasse den Lauf und schreie aus Leibeskräften um
Hilfe, meine Mutter lasse ich nicht schlagen. Er nimmt mich wie ein
Flickerpuppe und hat mich über die Tischkante, wobei mehrere Rippen
knackten, rückt dann aber aus, weil ein vorbeikommender Offizier durch
das Geschrei aufmerksam geworden war. Sagt: "Nicht gut, nicht
gut", sonst
kann er wohl nichts, geht aber ins andere Zimmer, wo noch ein guter,
großer Teppich unter Scherben und Schutt lag. Den lässt er durch
seinen nachfolgenden Burschen abschütteln und aufgerollt mitnehmen, ja
das kann er, das ist gut. Ich wusste abends nicht, wie ich mich hinlegen
sollte vor Schmerzen. Wickelte mir dann aber ein langes Handtuch fest
um, womit ich dann mehrere Tage ziemlich krumm gegangen bin.
Eine
Polenfamilie war in die obere Wohnung von Frau Muhs gezogen, die sich
dann bei ihrer älteren Schwester einige Häuser weiter einquartierte.
Der Pole trat gleich recht frech auf, schloss die Stätte, in denen die
Brennung war, ab, nahm das Gemüse, Obst, Beeren und Kartoffeln aus dem
Garten und sagte: "Alles mein, geht sucht euch". Ich beschloss
nun, in Tante Horns Haus umzuziehen, wie sie es mir auch geraten hatte.
Schaffte immer, wenn ich den Polen fort wusste, noch vorhandene
Lebensmittel aus dem Keller dorthin, grub auch die von uns gepflanzten
so schön gewachsenen Kartoffeln zum Teil aus, auch etwas Feuerung
schaffte ich rüber, die ich mir im leeren Zimmer versteckt hatte. Der
Pole kam fast alle Tage jetzt in unsere Wohnung, sagte immer, du ruhig
hierbleiben kannst, ich oben wohnen, suchte sich aber immer etwas aus,
das er gebrauchen konnte, sei es eine Tischdecke, die Gardinen vom
Fenster oder sonst etwas. Den sorgfältig getarnten Keller in der
Veranda entdeckte er von draußen her, wie er mich einmal gehört hatte
darin rumwirtschaften. Verbot mir dann, da nichts mehr rauszuholen. Zum
Glück hatte ich schon das Beste fort.
In der letzten Nacht, es war noch
gar nicht dunkel, weil die Russen die Uhren noch 2 Stunden früher
gestellt hatten. Muttchen und ich hatten uns aber schon zur Ruhe gelegt
in dem kleinen einfenstrigen Schlafzimmer, das wir uns schon während
Tante Horns Krankheit eingerichtet hatten, waren auch schon im
Halbschlummer, als ich durch sonderbares Knacken am Fenster geweckt
wurde. Ich schnell meinen Lodenmantel über, der immer bereit lag, sehe
wie ein schon älterer, betresster, ganz mit Orden bedeckter Offizier
mit seinem Säbel die großen Nägel aufbiegt und das Fenster ausheben
will. Ich stelle mich in ganzer Breite davor und fange an zu schimpfen,
wie nie zuvor: "Du gemeiner Kerl, Schweinehund du, wirst du dich
wohl wegscheren" und mach mit den Fingern immer "pfui, schäme
dich". Muttchen ruft immer ganz laut alle möglichen Männernamen:
Josef, Karl, Franz, Heinrich, kommt alle zur Hilfe. Da zog der alte
Sünder ab. Ich hatte nie Courage, aber unter den Polen musste man' s
lernen. Der hatte wahrlich alle Orden verdient.
Ich habe dann
noch schnell von innen große 4 Zoll Nägel, die mit dem Hammer schon
immer bereit lagen, vorgeklopft und wir befahlen uns nochmals ganz innig
in Gottes Schutz. Beim Morgengrauen stößt wieder ein noch junger,
betrunkenen Russe das Küchenfenster kaputt und steigt mit wüstem
Geschrei ein. "Alle aufstehen, hier Gestapo!" stellt alle drei
Frauen, mein betagtes Muttchen auch, an die Wand, wirft alle Betten auf
den Fußboden, fuchtelt uns immer mit dem Säbel vor dem Gesicht rum und
schreit, wenn ihr nicht deutsche Männer rausgebt, sperre ich euch drei
Tage in den Keller ein, wie ihr jetzt steht. Nachmittags komme ich
wieder und er kam, aber ziemlich nüchtern, überreichte mir einen
Rosenstrauß, klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte: "Nicht
böse sein, Mutter." Er war ja schon öfter bei uns gewesen nach
Streichhölzern, um sich die Zigarette anzuzünden. Er war sonst nie
böse, unterhielt sich in ziemlich gutem Deutsch mit mir und warnte mich
vor dem Polen, der oben wohnte. Die Russen und Polen vertrugen sich
überhaupt schlechter wie Hund und Katze.
Wir gingen noch vor
Abend mit unseren geringen Habseligkeiten nach der Sonnenstraße 72 in
Tante Horns Haus, wo Annchen Sadowski, Herr und Frau Meißners frühere
Haustochter, uns das große Verandazimmer eingerichtet hatte. Meinem
Mütterlein und Frau Frost war schon der nicht weite Weg recht schwer
und wie viele Male war ich doch schon mit dem bepackten Sportkarren den
Berg hinausgefahren? Frau Frost erinnerte mich noch, wie sie mir vor 2
Jahren 3 große Äpfel in die Handtasche gesteckt beim Nachhausegehen
und ich sie wieder, schon am Gartenzaun, wo es etwas bergan stieg,
hingelegt habe, weil ich nicht weiterkonnte. Ich sagte ihr, sie solle
nur Mut fassen. Unser wunderbarer, starker Gott hilft auch ihr wieder
auf. Sie ist ja fast 10 Jahre jünger als ich, hat aber so gar keinen
Lebensmut. Mir hilft ja auch viel das eiserne Muss, denn abends kann ich
lange wegen Herz- und Rückenschmerzen nicht einschlafen, aber morgens
geht es wieder, muss gehen, Annchen sagt ebenso, und wir beide schleppen
auch alles Wasser von einem ziemlich entfernten Hof aus der
Königsbergerstraße heran, weil doch alle Leitungen zerstört sind und
die Polen nichts in Ordnung bringen. Ja, sich höchst verwunderten, dass
bei uns in der früheren Wohnung auf dem Stadtfeld das Wasser aus der
Wand kam. Drehten daher in vielen Küchen und Stallungen die
Wasserhähne ab und klopften sie bei sich in die Wand und wunderten sich
dann wieder, dass kein Wasser kam. Sagten ganz stolz: "Wir bringen
deutschen Schweinen Kultura".
Ja, Läuse und Flöhe, die
brachten sie in Unmengen. Überhaupt nahmen Fliegen und Mücken, die wir
früher in der Stadt kaum kannten, völlig überhand, weil die Straßen
nie gesäubert wurden vom Unrat und auf den stinkenden Wiesen und
Gräben, wo das Wasser nun schon 3/4 Jahr keinen Abfluss hatte, sammelte
sich das Ungeziefer in großen Scharen. Die Nogat- und Weichseldämme
waren durchstochen und die Wasserwerke stillgelegt. Auf dem Elbingfluss
schwammen Pferdeleichen, Deutsche- und Russenleichen friedlich
beieinander und verpesteten in der Hitze die Luft. Na, wir wohnten
wenigstens nicht nahe dabei. Annchen ging aber öfter über die
schwankende Notbrücke des Flusses zu ihrer eigenen Wohnung, Michelauer
Weg, und freute sich, dass da noch nicht geplündert war, überhaupt
auch die anderen Wohnungen im Haus ziemlich in Ordnung waren.
Vorläufig hatten wir ja auch hier in der Sonnenstraße noch Ruhe, aber
sie schaffte schon die Wertgegenstände, die noch von Herrn Meißner
zusammen getragen waren, alle dort rüber, weil sie gehört hatte, dass
der Pole nach unserer Wohnung trachtet. Es wohnte sich hier sonst ganz
schön, nur sonntags hatten die Polen im gegenüberliegenden Haus, wo
sie einen Tanzsaal eingerichtet hatten, den ganzen Nachmittag bis spät
in die Nacht solch entsetzlichen, Ohren zerreißenden Lärm durch ihre
gräuliche Musik, das Getrappel und Gegröle, dass es kaum zum Aushalten
war.
In der 2. Woche bekamen wir auch Polenbesuch. "Hier Miliz,
sofort aufmachen", brüllten drei betrunkene, bewaffnete Räuber.
Bei mir waren sie gleich zuerst immer drin. Forderten die russischen
Ausweise, die wir uns hatten ausstellen lassen müssen, sagten, alle
still sitzen bleiben und fingen an, alle Schubladen und Schränke zu
durchwühlen. Ich sagte, dass ich in der Küche nach dem Mittagessen
sehen müsse und setzte mich still hin, um Kartoffeln zu schälen. Da
ließ mich der Kerl und ging zu den andern weiter ans Rauben. Wie er
aber meine lauten Hilferufe, die ich durchs offene Fenster erschallen
ließ, hörte, kam er schnell wieder, packte mich am Arm und sperrte
mich ins Klosett ein. Das Schloss hielt ja nicht, aber ich getraute mich
nun doch nicht raus und bat nur immer um Schutz für mein betagtes
Muttchen. Wohl eine halbe Stunde suchten die Räuber alle Zimmer durch.
Bei Frau Meißner fanden sie ja noch Allerlei.
Wie ich sie verschwinden
sah hinten über den Hof mit Säcken und Koffer, kam ich schnell aus
meinem Gefängnis und tröstete mein weinendes Muttchen, der sie nun
auch das schöne, warme Tuch von den Knien genommen hatten. Sie sagte
aber, dass sie nur um mich geweint, weil sie glaubte, sie hätten mich
mitgeschleppt. Ich sagte ihr, dass sie solch alte Frau wie mich nicht
mehr mitnehmen. Ich kam ihr mit meinen nun fast 68 Jahren noch immer
jung vor. Die Betten lagen abgezogen auf dem Fußboden und ich hatte sie
doch gerade nun zum Sonntag frisch überzogen. Alles, was noch von
Wäsche war, hatten die Räuber mitgenommen. Zum Glück konnte ich nun
noch die schmutzigen Bezüge aus dem Wäschekorb schnell waschen und wir
waren froh, dass wir uns am Abend wenigstens noch ins Bett legen
konnten. Wir mussten jetzt für unser Zimmer Miete an die russische
Stadtverwaltung zahlen und eben kam der Einsammler, der sagte, ich soll
zur Kommandantur gehen, den Raub melden. Aber da war ich ja schon
mehrmals gewesen und stets nur mit Achselzucken abgewiesen. Ihr müsst
besser aufpassen, sagten die Herren. Wir waren eben ganz ohne Schutz,
vogelfrei.
Aus den Kellern suchte ich mir wieder allerlei noch
einigermaßen gute Lumpen zusammen, die ich sauber gewaschen zu
Wäschestücken und Kleidern zurecht machte. So hatte ich mir eben aus
14 Stücken Stoff, die im Farbton harmonierten, ein Kleid für mich zum
Geburtstag zusammengestichelt und Annchen nahm es mit mehreren
Wollsachen im Karton verpackt mit in ihre Wohnung über dem Elbingfluss.
Ganz traurig kam sie zurück und sagte, diesmal haben ihr die Polen auf
der Brücke alles fortgenommen. Na, mich konnte kaum noch etwas
erschüttern. Zum Umziehen hatten wir ja nun nicht mehr viel. Die
wenigen Lebensmittel hatte ich in meinen Korb gepackt. Die Betten wollte
Herr Rehrmann mir mit einem Handwagen rüber bringen nach Feierabend.
Ich bin gerade mit meinem Mütterlein beim Mittagessen. Hatte für eine
gute lederne Handtasche von Tante Horn 1 Pfund Rauchspeck und ein
schönes Gericht Pilze, auch Zwiebeln und 2 Brötchen eingehandelt, also
ein schönes Geburtstagsmittagessen bereitet, das wir uns gut schmecken
ließen.
Plötzlich hören wir Kolbenstöße gegen die Tür. "Hier
Miliz", aufmachen sofort!" Voran kommt der Pole von nebenan
und drei bewaffnete hinterher. "Raus, raus, sofort!" und nimmt
mich am Arm. Ich bitte, lass uns doch noch etwas essen. Er verstand
etwas deutsch und wehrte dann den anderen, die gleich dreinschlagen
wollten, sagte aber, in 5 Minuten alles raus, alles mein hier. Da nahm
ich den Topf mit heißen Pellkartoffeln, die Teller mit geschmorten
Pilzen darauf, mein Muttchen an die Hand und raus auf den Hof in den
Regen. Die Frau des Polen winkte uns aber in ihre Wohnung nebenan und
ich ging noch schnell Muttchens warme Schuhe holen, denn sie war ja
wieder in Strümpfen, weil sie die Füße auf der Wärmflasche auf dem
Bänkchen hatte. Der Pole ließ mich auch noch den Brotkasten mitnehmen.
Wie ich ihn aber noch bat um 1 Bett für meine alte Mutter, wurde er
böse. Die Frau ließ uns ruhig essen, gab Muttchen auch noch warmen
Kaffee.
Ich ging nun Unterkunft suchen in dem strömenden Regen und Gott
führte mich zu Frau Heise, die jetzt dem Polen, der von ihrer
Schlächterei Besitz genommen hatte, wirtschaftete. Sie hatte oben noch
das Zimmer ihres in Gefangenschaft geratenen Sohnes frei und war gleich
bereit, Muttchen und mich solange aufzunehmen, bis er heimkommt. Machte
noch ein Bett auf dem Chaiselongue zurecht für mich und ich ging mein
Muttchen holen. Unterwegs murmelte ich immer: "Die Füchse haben
Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester!", weiter kam
ich aber nicht, schämte mich dann doch zu sehr. Was bin ich armer,
zertretener Wurm gegen den großen Gott- und Menschensohn, der also
klagen musste? Mit meinem Mütterlein am Arm und einem kleinen
Bündelchen in der anderen Hand ging ich dann ganz getrost unserem
nächsten Heim zu. Es war inzwischen fast Abend geworden, aber die Sonne
vergoldete und bedeckte mit ihren lichten Strahlen noch einmal das ganze
Elend ringsum und hüllte auch uns beide ein in das barmherzige Erbarmen
unseres großen Gottes.
Frau Heise sagte mir später noch, wie
sie sich gewundert hat, dass ich fast heiter beim Eintreten gesagt habe:
"Hier bin ich und alles, war mir Gott gelassen hat, aber ich habe
und halte ihn fest". Ein kleines tröstliches Erlebnis mit einem
Russen mittleren Alters noch aus unserem früheren Heim muss ich noch
berichten. Ich traf ihn im Hausflur und als ich aus dem Garten kam. Er
hatte solch freundliches, gutmütiges Gesicht, trat ganz bescheiden zur
Seite und fragte, du Mutter hier? Wie ich bejahte, sagte er in
gebrochenem Deutsch: "Krieg nicht gut, deutsche Soldaten auch nicht
gut, mein Haus verbrannt, alte kranke Mutter mit verbrannt, meine Frau
und Kinder zur Arbeit mit verschleppt, ich ganz allein, aber hier
Frieden, indem er die Hand aufs Herz legte. Dort immer Friede gen Himmel
weisend. Du auch Frieden? Wie ich mit Tränen im Auge nickte, nahm er
meine Hand in seinen braunen starken Hände, streichelte sie sanft,
guckte mich so lieb und treu an und sagte: "Schwester nicht weinen.
Gott weiß alles!" Das hat mich so gestärkt und ermuntert.
Am nächsten Tag, es war Sonntag, und die Russen feierten den Sieg über
Berlin, kam ein betrunkener Russe plötzlich und forderte von mir den
russischen Ausweis. Wie ich ihn nicht gleich geben wollte, setzte er mir
die Pistole auf den Brust. Muttchen schrie auf. Er sagte: "Du alte
Gluck ruhig sein!" und zu mir: "Du mitkommen, sonst ich
schießen!" Die Polenfrau von nebenan kam dazwischen und sagte zu
mir: "Geh nur ruhig, sollst nur 1 Stunde arbeiten, dann kommst du
wieder nach Hause, ich Mutter aufpassen." Der Russe trieb mich mit
Kolbenstößen in die Kniekehlen vorwärts zu einem Haus, wo er schon 5
Frauen unter Bewachung aufgestellt hatte. Wir wurden dann auf einen
großen Hof einer Weinbrandbrennerei geführt. Dort wurden von einem
Offizier die Pässe nachgesehen und eingesteckt. Dann wurden 4 noch
jüngere Frauen an einen großen Handwagen mit großen Ballons und
Flaschen beladen vorgespannt und ich mit noch einer älteren Frau
mussten hinten nachschieben. Wohl 10 Mann Bewachung mit Rädern seitlich
und hinterher schrien immer "los, schnell!" und es ging doch so steil
bergan hinten um die Stadt in den entlegenen Straßen. Ich bekam so
starkes Nasenbluten, dass die ganze Schürze schon blutig war. Da rief
mich der Offizier, gab mir den Ausweis und sagte: "Du zu alt, geh nach
Hause!"
Wie freute sich mein geängstigtes Muttchen, dass
ich wieder da war. Die Schürze hatte ich gleich auf dem Hof in eine
Wanne mit Wasser gelegt. Sehr müde und zerschlagen legte ich mich zur
Ruhe, sprach aber zu meinem Muttchen immer von dem schönen Erlebnis vom
Tag zuvor. Und so hat Gott es immer eingerichtet, dass vor oder nach
besonders schweren Tagen es dann auch eine Stärkung wieder gab. Oh
unser treuer Gott hat uns nicht einen Augenblick verlassen. Nie zuvor
hatten wir in solchem Maße seine beseligende Nähe, seinen reichen
Frieden genossen, als jetzt, wo wir so ganz allein auf unseren
himmlischen Vater angewiesen waren. Mein Muttchen sagte immer: "Es gibt
doch nichts Seligeres, als in Gottes Erbarmen zu ruhen und von seiner
Gnade zu leben." Auch an dem Sonntagabend haben wir beide noch gesungen:
"Reicher kann ich nirgends werden, als ich schon in Jesu bin,"
usw. und noch "Oh in den Armen Jesu." Wir haben beide immer so
gern gesungen und manchmal hat das die Feinde von unserer Tür
vertrieben, denn wir hörten, dass sie sich entfernten.
Bei Frau Heise
fühlten wir uns recht wohl. Ich besorgte ihr den Haushalt, weil sie
doch unten in der Fleischerei des Polen immer sein musste. Ich konnte
meinem Muttchen immer kräftiges Essen rauf bringen in unser Stübchen,
was sie leider aber nicht mehr vertragen konnte nach den Wochen so
karger Ernährung. Sie wurde den schrecklichen Durchfall nicht mehr los
und ihre Lebenskraft nahm sehr ab. Frau Heises Mann war krank an
Leib und Seele aus der Verschleppung zurückgekommen, so elend und
voller Narben und blauen Flecken von den vielen Misshandlungen, weil er
sich als Nazi hatte bekennen sollen, was er doch nie gewesen war. Den
Sohn erwarteten sie nun auch bald, hatten aus einem Lazarett Nachricht
von seiner baldigen Genesung nach schwerer Krankheit erhalten.
Da war ja
unseres Bleibens auch nicht mehr lange und ich ging zu Tante Annchen
über die schwankende Notbrücke des Elbingflusses. Sie war ja nur aus
schmalen Anlegeplanken mit einseitigem Geländer von den Russen für die
Fußgänger notdürftig gelegt und ich durfte ja nicht runtergucken,
sonst wäre ich ins Wasser gefallen. Später ging es schon besser, man
wird' s gewöhnt. Annchen half mir, unten im Haus ein kleines, nicht zu
sehr mitgenommenes Zimmer sauber zu machen. Herr Rehrmann machte die
Fenster heil . Der Ofen und Herd waren ziemlich in Ordnung und auch
Brennung im Keller, sodass ich schön warm machen konnte. Einige Male
holten wir verschiedene Dinge aus den Kellern der verbrannten Häuser. Frau Heise gab mir
noch ein Bett für Omachen und eine Decke für mich. Wie ich alles
rüber gebracht hatte über den Fluss, kam Herr Rehrmann mit
seinem Schwager und trugen mein schwaches Muttchen im Korbstuhl,
abwechselnd ging sie auch noch gestützt. Über den Fluss musste sie
Herr Rehrmann immer vor sich herschieben, weil zwei nicht nebeneinander
zum Gehen Platz hatten. Gott half, das wir glücklich im neuen Heim
ankamen, wo Annchen uns mit heißem Kaffee empfing. Mein Muttchen
fühlte sich ganz glücklich in der warmen Ofenecke in ihrem Korbstuhl
und sagte: "Nun brauche ich aber nicht mehr umziehen, nur noch ganz
nach oben." Am anderen Morgen brachte mir eine
Frau aus dem Hause gegenüber der Straße drei schöne dicke
Federkissen. Sagte, sie hat gehört, dass ich kein Bett mehr habe. Ich
fiel ihr um den Hals und dankte ihr unter Tränen. Es war doch schon
Oktober und nachts hatten mir die Beine gefroren. - 14 Tage hatten wir
bei Frau Heise Unterkunft und Verpflegung gehabt, aber nun hieß es, die
selbst ranschaffen. Kartoffeln durfte ich mir noch öfter von Frau Heise
holen, auch mal einige Knochen, aber Brot, wo sollte ich Brot hernehmen?
Hatte ich doch keinen Pfennig Geld, auch nichts, gar nichts zu
veräußern. Unser tatkräftiges Annchen half. Wir gingen in die
zerstörten Häuser, in die Keller und fanden da noch allerlei
brauchbare Sachen von Wäsche und Kleidungsstücken unter Schutt und
Unrat, auch Wolle. Alles wurde gewaschen und Schürzen und
Kinderkleidchen recht bunt, wie die Polen es liebten,
zurechtgeschneidert und auf dem Markt verkauft. Ich hatte darin einiges
Geschick und Annchen wieder im Ranholen und Verkaufen. So ging es ganz
gut, wenn ich von früh bis zum Dunkelwerden fleißig stichelte, alles
mit der Hand natürlich. Holz hacken und zusammensuchen musste ich auch
und mein Muttchen besorgen.
Oh wie schwer war es mir zu sehen, wie sie
täglich immer schwächer wurde. Aber nie ungeduldig, immer zufrieden
und fröhlich blieb mein tapferes Muttchen, war so glücklich, wenn ich
ihr wieder, nachdem ich sie frisch gemacht hatte, in den großen
Korbstuhl in die warme Ofenecke half. Doch plötzlich wollte sie nichts
mehr genießen, auch nicht mal die schöne Hühnerbrühe, die ihr
Annchen noch brachte. Sie konnte nun auch nicht mehr auf sein, hat aber
nur 3 Tage fest liegen brauchen. Ich hatte ihr einen Stock auf den Tisch
am Bett gelegt, damit klopfte sie, wenn sie mich brauchte und ich in der
Küche zu tun hatte. Ich musste ihr noch öfter nachts, auch am Tage auf
den Stuhl helfen, weil sie nichts schmutzig machen wollte und es kam
doch nur immer ganz weniger blutiger Schleim.
Am 19. Oktober vormittags
klopfte mein Muttchen recht hastig und bat dann so ängstlich:
"Lass mich doch nicht allein, bleibe bei mir mein Kind, der Teufel
sagt, ich bin nicht Gottes Kind er hat mich ganz vergessen, sonst würde
er mich doch erhören und heim rufen." Ich machte die Tür groß auf
und sagte: "Nun aber raus Satan, du hast hier nichts zu suchen,
Jesus ist Sieger." Setzte mich zu meinem Muttchen ans Bett, nahm
ihre Hand fest in die meine und sagte ihr viele tröstliche
Verheißungen. "Ich habe dich erlöst, du bist mein, fürchte dich
nicht. Wenn du durchs Wasser gehst, will ich bei dir sein, usw."
Habe ihr auch noch leise gesungen: "Welch Glück ist' s erlöst zu
sein" und andere Heimatlieder und sie versuchte noch mitzusingen.
Alle Angst war fort, still glücklich streichelte sie immer meine Hand
und dankte mir und ich ihr, meinem teuren Mütterlein, und es waren so
selige Augenblicke, wir durften hineinschauen durch einen Spalt in die
Wohnungen des Lichts. Mein Muttchen sagte: "Nun ist alles gut. Was
ist doch mein ganzes langes Leben, alles eitel, nur Jesus, Jesus
bleibt." Ich sagte ihr: "Ja, und die Engel stehen schon
bereit, dich heim zutragen in des Hirten Arm und Schoß, heute
noch", denn ich sah es an ihrem veränderten Gesicht. "Oh, wie
schön, wie gut," sagte sie noch und schlief ganz ruhig, glücklich
lächelnd ein.
Mein Feuer war ausgebrannt in der Küche, ich
brauchte auch kein Mittagessen, machte meine Wäsche fertig und ging
inzwischen immer wieder nach meinem Muttchen sehen. Sie atmete ganz
ruhig, doch schwächer, schlief und merkte nicht, wenn ich mich über
sie beugte. Bei Sonnenuntergang, ich war eben oben bei Annchen gewesen,
um mit ihr zu besprechen, wo wir Muttchen hinlegen, wenn sie nun stirbt,
beuge ich mich über sie, sie liegt genau so wie vor 10 Minuten, aber
ihr Geist ist entflohen, sie atmet nicht mehr, ist hinübergeschlummert,
Augen und Mund sind fest geschlossen, nur das friedliche, glückliche
Lächeln liegt auf dem teuren Mutterantlitz. Annchen sagte auch beim
Eintreten: "Sieh nur wie ein glückliches Kind im Mutterarm ist sie
eingeschlafen." Keine Träne habe ich geweint, nur Gott gedankt,
dass er ihr das heiße Sehnen nun gestillt und mein teures Mütterlein
heimgeholt in die Wohnungen des Lichts, wo kein Leid, kein Geschrei,
kein Krieg mehr ist, sondern Friede, ewige Freude und Wonne.
Annchen
half mir, Muttchen waschen und das letzte saubere Hemd anziehen und wir
trugen sie ins andere leere Zimmer, wo nur Brennung lag, die ich schön
aufgeräumt hatte. Dort wickelten wir sie in das letzte, geflickte
Bettuch ein und legten sie ganz behutsam auf die zurecht gelegten
Bretter, ein altes Sofakissen unter den Kopf. Anderntags ging ich zu
Herrn Rehrmann, der in Kraffohlsdorf, außerhalb der Stadt Arbeit und
etwas Verdienst gefunden hatte. Er versprach mir gleich, sich einige
Stunden vor Feierabend frei zu machen, um für mein Muttchen das Grab
neben Vaters auf unserem Friedhof zu machen. Wir hatten da schon ein
schön eingefriedigtes Erbbegräbnis mit großen roten Granitsteinen.
Mit einem großen Arm voll schöner Herbstblumen und Tannengrün kehrte
ich heim und bedeckte damit die teure Leiche, welche Annchen mit Hilfe
eines alten Mannes mit dem Brett auf einem großen, alten, im Keller
gefundenen, hochrädrigen Kinderwagen festgebunden hatte.
Nach kurzer
Andacht fuhren wir beide und noch 2 Nachbarinnen mit Spaten und Schaufel
über die weit entlegene feste Elbingbrücke über 1 Stunde weit bis zu
unserem Gemeindefriedhof. Der Brückenposten ließ uns ruhig durch und
auch in der Stadt wurden wir nicht angehalten. Ich half Herrn Rehrmann
noch, das Grab fertig zu machen. Annchen legte es mit Tannengrün aus. Es
war ja nur flach gegraben. Herr Rehrmann nahm mein Muttchen ganz allein
auf seine Arme, sagte, sie wiegt höchstens noch 50 - 60 Pfd., und legte
sie so behutsam wie ein Kind in ihr letztes Bettlein. Wir sangen ihr die
drei letzten Strophen von "Was kann es schönres geben, usw."
und "Wenn wir müde werden, dann bringt er uns zur Ruh, und deckt
mit kühler Erde die müden Kinder zu" und auch die beiden letzten
Strophen. Herr Rehrmann sprach einige schöne Bibelworte und auch die
Anerkennung ihrer Treue im regelmäßigen Besuch der Gottesdienste sowie
ihrer Liebe zu schönem Gesang, durch den sie in jungen Jahren als 1.
Chorsängerin freudig gedient und den sie später in ihrem Hause immer
gepflegt, selbst eingeübt hat und auch noch in ihrem hohen Alter jedes
Lied mit richtigem Ton angestimmt hat in den Bibelstunden und
Frauenstunden, wo kein Instrument gespielt wurde. Wir schmückten noch
den teuren Hügel und mussten dann auch eilen, dass wir vor Dunkelwerden
noch über die Elbingbrücke kamen.
Meines teuren Mütterleins Platz war
nun leer am Ofen und ich kam mir doch etwas vereinsamt vor, obgleich
durch alle Angst und Schrecken unsere Gefühle schon sehr abgestumpft
waren. Keinem von meinen 7 noch lebenden Geschwistern konnte ich den
Heimgang unseres geliebten Muttchens mitteilen. Wo sind sie alle? Und
meine 4 Kinder, die alle näher der Grenze wohnten wie ich. Von den
beiden ältesten Töchtern wusste ich, dass sie mit dem großen Treck
nach Pommern geflüchtet waren mit ihren Kindern, auch meine
Schwiegertochter mit ihren lieben Kleinen. Der Sohn und die
Schwiegersöhne im Felde vor dem Feind tot oder in Gefangenschaft? Oh,
diese lange Ungewissheit, schon fast ein Jahr ohne Nachricht. Wie bange
wird mir doch oft ums Herz. Ich bin nun ganz allein auf Gott gestellt,
selbst so elend geworden an Leib und Seele, sage ich öfter: "Mach
ein End, oh Herr, mach Ende."
Aber mein treuer, all weiser Vater hat
schon vorgesorgt, dass ich nicht verzagen kann. Gleich 3 Tage nach
Muttchens Tod kommen plötzlich 2 Frauen zu mir ins Zimmerchen und
führen einen vom Wasser triefenden alten Mann in der Mitte, den sie,
wie sie berichteten, beim Wasserholen aus dem Fluss vor dem Ertrinken
gerettet haben. Hinterher kommt auch gleich Tante Annchen mit einem Hemd
und Unterhose von ihrem verstorbenen Mann und hilft mir den zitternden
Opa auszuziehen, mit erwärmten Tüchern trocken reiben und in meines
Muttchens Bett bringen. Während ich die Wasserlachen aufwische, holt
sie schon heißen Kaffee und bringt auch eine heiße Wärmflasche mit
und sagt: "So, diesen Opa musst du nun behalten. Ich kenne ihn als
einen sehr ordentlichen Mann hier in meiner Nachbarschaft. Vor 2 Wochen
ist ihm die Frau gestorben und heute haben ihn die Polen aus seinem
eigenen schönen Haus verwiesen so wie er stand, nur mit Hose und
Wolljacke in warmen Hausschuhen. Da hat ihn die Verzweiflung gepackt,
und er ist in den Fluss gegangen. Dir hat Gott nun wieder eine Aufgabe
gegeben, du sollst ihn gesund pflegen an Leib und Seele. Ich gehe gleich
zu den Polen hin und will sehen, dass ich noch wenigstens Kartoffeln und
andere Lebensmittel für ihn rauskriege, denn ich weiß, dass er noch
einen guten Vorrat hat aus seinem großen Garten."
So bestimmt
sagte das alles Tante Annchen, und ich konnte nichts darauf erwidern,
als: "Bin ich denn die Witwe von Sarapta?" "Ja,"
sagte sie, "wenn du auch Saretzki heißt. Ich habe noch die schwer
kranke Frau Meißner zu pflegen und so viel ich kann, helfe ich dir
auch." Annchen konnte sich etwas mit dem Polen verständigen und
war auch ziemlich resolut. Brachte nach kurzer Zeit zwei nette Beutel
mit Weizen und Gerste, einen Napf mit Schmalz, auch Speck und Kartoffeln
und versprach, am anderen Tag noch mehr zu holen. Opa Kontowski sprach
an dem Tag kein Wort, stöhnte nur ab und zu. Wie ich ihm aber schöne
Kartoffelsuppe mit Speck und Zwiebeln eingebraten ans Bett brachte, aß
er den vollen Teller ganz leer. Dann sagte ich, dass ich immer meine
Abendandacht halte und ob ich laut aus der Bibel vorlesen soll, da
nickte er bejahend. Ich habe dann den 23. Psalm gelesen, uns in Gottes
gnädigen Schutz befohlen und das Lied: "Nun ruhen alle
Wälder" gesungen. Bei dem letzten Vers "Breit aus die Flügel
beide usw." schluchzte er laut auf. Ich überzeugte mich noch, dass
er gut warm war, streichelte ihm die runzlige Wange und wünschte ihm
eine gute Nacht. Mit einem Mal überkam mich nun doch solch
eigentümliches Gefühl, dass ich mit einem ganz fremden Mann nun in
einem Zimmer schlafen sollte. Aber es war eben Krieg und er ein
78jähriger, kranker Opa, also noch 10 Jahre älter als ich und so
schlief ich ganz friedlich ein.
Die Polen hatten uns in diesem Haus
überhaupt noch nicht belästigt. Das kam wohl daher, weil ganz in der
Nähe russische Bagage lag in einem großen Haus mit Garten. Opa
Kantowski stand am anderen Morgen gesund auf und zog seine eben
gebügelten Sachen an. Dann fragte er mich, nein bat mich vielmehr, ihn
doch zu behalten. Er ist durch mein Singen und Beten mit ihm so beruhigt
worden und möchte nicht noch einmal in die Verzweiflung fallen, seinem
Leben ein Ende zu machen, weil es doch gottlos ist und, da seine Frau im
Glauben an ihren Erlöser heimgegangen ist, will er sich ihm auch jetzt
ganz anvertrauen. Wir haben nun immer zusammen Morgen- und Abendandacht
gehalten und Opa erbot sich, den Bibelabschnitt und Zettel zu lesen und
ich sollte singen und beten. Er ging auch mit Tante Annchen aus seinem
Keller noch Kartoffeln holen, auch einen großen Beutel von seinem
geernteten Weizen gab ihm der Pole noch. Da hat er davon, wenn er gut
trocken war, immer auf der Kaffeemühle Grütze gemahlen zur Morgen- und
Abendsuppe, und so hatten wir vorläufig keine Not.
In unser Haus
zog nun auch Herr Rehrmann mit seiner Frau, Tochter und Enkelin, auch
seinem kranken Schwager ein und in das größere Zimmer neben meinem
kleinen, Familie Neumann, auch Geschwister zu unserer Gemeinde gehörig.
Oben neben Tante Annchen wohnten Herr und Frau Stangnat aus der
landeskirchlichen Gemeinschaft und unten noch eine Frau Krause mit 2
Kindern, der alten, kranken Mutter und Schwester, auch liebe,
christliche Leute. Alle kamen wir nun sonntagnachmittags immer zusammen
bei Tante Annchen, die auch Frau Frost aufgenommen hatte, zum
gemeinsamen Gottesdienst, den Herr Rehrmann und Herr Stangnat
abwechselnd leiteten. Auch aus der Stadt kamen noch die Frauen
Freundlich und Kornblum und brachten auch noch ein ukrainisches Ehepaar,
Baptistengeschwister, mit. Wenn wir uns auch nicht viel verständigen
konnten, so sahen wir es doch den leuchtenden Augen an. Also verstärkt
in Freud und Leid, der Gemeinschaft Seligkeit.
Doch die Polen wurden
aufmerksam, weil sie uns singen hörten und an einem Sonntagnachmittag
kommt ein betrunkener Pole, stößt mit dem Kolben die Tür kaputt, sagt
: "Keiner darf raus, gehen draußen Wache" und wir mussten
alle unsere Ausweise abgeben und er bestellte uns alle, am anderen Tag
auf der Polizei zu erscheinen. Die Ukrainerin versuchte ihm klar zu
machen, dass wir keine politischen Zusammenkünfte haben, zeigte ihm die
Bibel und Glaubensstimmen, die wir in den Händen hatten und
beschwichtigte ihn, dass er uns doch ließ in unsere Wohnung gehen. Wir
bekamen auf der Polizei unseren Ausweis wieder, wurden aber gewarnt,
nicht mehr zusammen zu kommen. Die ukrainischen Geschwister haben uns
nun zu sich zur Versammlung eingeladen, nachdem sie ein großes Zimmer
eingerichtet hatten. Unsere liebe Kapelle in der Horst-Wessel-Straße
hatten sich die Polen gleich zurecht gemacht, weil sie nur wenig
beschädigt war und hielten da ihre Gottesdienste.
Inzwischen war die
Adventszeit herangekommen. Wie so ganz anders als im vorigen Jahr. Weil
die Polen doch nichts in Ordnung brachten, hatten wir kein Licht und ich
saß mit meinem Strickzeug auf niedrigem Bänkchen vor der offenen
Ofentür und Opa Kantowski legte immer wieder fein geschnittene
Holzspäne auf, die ein helles Feuerlein gaben, bei dem ich 12 Paar
Fäustlinge, geringelt und einfarbig, große und kleine, gestrickt habe
von Rebbelwolle aus meines Muttchens weitem Unterrock, die mir Opa
angefeuchtet auf einem Brett gewickelt, schön glatt gemacht hatte. 10
Paar verkaufte ich für 70 - 80 Zlotys per Paar. Ein Paar eben fertige
gefielen einem Polen, der vorgab, etwas kaufen zu wollen, sie aber dann
nebst Opas warmer Joppe mitgehen ließ mit dreistem, freundlichem
Wiedersehenswinken.
Und ich hätte das Geld so sehr nötig gebraucht,
wollte zu Weihnachten etwas Mehl kaufen zum Striezelbacken. Unser Vorrat
an Lebensmitteln war fast vollständig aufgebraucht. Opa trauerte auch
um seine warme Joppe, die er immer früh morgens zum Wasserholen anzog.
Er besorgte das Wasser zum Kochen für Tante Annchen mit, auch das Holz
zum Feuermachen und bekam dann immer 2 dicke Schnitten Brot zum
Frühstück, wovon er mir noch manchmal etwas abgab, wenn ich nichts
mehr hatte. Wir hatten uns nun schon daran gewöhnt, nur zweimal am Tage
zu essen, morgens nicht so früh, zwischen 9 und 10 Uhr, unsere
Wassermehlsuppe mit etwas Brot und nachmittags vorm Dunkelwerden,
Kartoffeln mit Grütze oder wenn ich etwas Öl oder Fett noch habe, auch
eine Soße mit Zwiebeln. Das war meistens das Sonntagsessen dann. Wir
kamen dabei aus, wenn wir früh zu Bett gingen. Man muss nur nicht an
Essen denken, wenn man nichts hat. Milch oder gar Fleisch und Eier
kannten wir gar nicht mehr. Und das trockene Schwarzbrot schmeckte
köstlich, immer nach mehr.
Tante Annchen hat uns in der Adventszeit
öfters abends zu sich nach oben eingeladen. Da saßen wir dann mit
unseren Strickarbeiten gemütlich um die kleine Petroleumlampe, die sie
in einem Keller gefunden hatte, sangen Weihnachtslieder und Tante
Annchen hat aus alten Wahrheitszeugen und Friedensboten, auch Büchern
vorgelesen, manchmal bis 10 Uhr und dann sagt sie, jetzt werdet ihr aber
Hunger haben, brachte einen Teller voll Schmalz- oder Sirupstullen und
den heißen Kaffee, der unter der dicken Wollhülle auf dem Herd stand
und es ging ans Schmausen. Nach gemeinsamer Abendandacht gingen wir dann
dankbar zur Ruhe und es schlief sich doch schneller ein, als mit
hungrigem Magen.
Ich fragte Annchen öfter wie ihr das möglich ist.
Dann erzählte sie mir, dass die inzwischen verstorbene Frau Meißner,
die sie bis zu ihrem Heimgang gepflegt hat, ihr noch ein nettes
Päckchen Geld ausgehändigt hat, das ihr Mann für verkaufte Silber-
und andere Wertsachen erhielt, die er anfangs in verlassenen Häusern
vorgefunden hat. Ja, er war eben Kaufmann. Ich war ja so dumm, dass ich
auf so etwas nie gekommen wäre, ließ mir auch alles, was ich selbst
noch hatte, von den schlauen, hinterlistigen Polen wegstehlen. Aber der
treue Vater im Himmel hat mich doch nicht verlassen und solchen Hunger,
der richtig wehtut, kannte ich auch noch nicht.
Ich habe immer gern und
viel gesungen, auch jetzt in der Schreckenszeit mir selbst, und anderen
zum Trost. "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen
wird," "Der Herr ist mein getreuer Hirt" und andere
Psalmen und Heimatlieder. Wenn Tante Annchen mich mal einen Tag nicht
singen hörte, kam sie meist mit einem Stück Brot oder ein paar
Kartoffeln runter und sagte: "Du hast gewiss nichts mehr zu essen,
denn ich habe dich heute noch nicht singen hören." Opa Kantowski
sagte auch öfter, wenn wir hungrig zu Bett gehen mussten: "Wir
werden ja doch verhungern müssen". Aber ich bleib dabei, wir sind
in Gottes Augen mehr, denn viele Sperlinge und ermahnte ihn, nur auch
vertrauend zum Vater im Himmel zu beten. Er sagte, dass er nur das
Vaterunser beten kann und tat es denn auch nach meinem Abendgebet.
Am
23.12., dem Tag vor dem Christfest, ging ich zu einer freundlichen
Polenfrau, die farbige Flickwäsche abliefern und wurde plötzlich
aufmerksam auf Hammerschläge in einer Fabrik, an der ich vorbei ging.
Ganz blitzartig durchzuckte es mich, da gehe hinein. Im Kontor fragte
ich einen Herrn der deutsch verstand, ob er vielleicht einen alten
Werkmeister, der eine Maschinenfabrik geleitet hat, beschäftigen
möchte (da war nämlich mein alter Opa). Er willigte sofort ein. Nun
war Opa ganz aufgeräumt, rasierte sich fein, ich verschnitt ihm noch
die Haare, da machte er solch fröhliches Gesicht, dass man ihm die 78
Jahre noch gar nicht ansah.
Von meiner Polenfrau hatte ich auch
etwas zum Essen mitgebracht, das gab neuen Lebensmut, so dass wir
hoffnungsfroh zur Ruhe gingen. Schon viel zu früh ging Opa mit
gefüllter Feldflasche und einigen Stullen stolz zur Arbeit. Ich war
gerade noch beim Saubermachen, hatte mein Bett, das nur noch aus drei
zusammengehefteten Kissen bestand, frisch mit dem letzten, am Abend
gewaschenen und am Ofen getrockneten Bezug überzogen und freute mich
nun richtig auf Weihnachten. Da höre ich mit einmal im leeren Zimmer
nebenan solch verdächtiges Geräusch und im nächsten Augenblick stehen
2 halbwüchsige Polenbengels vor mir, grinsen ganz freundlich, setzen
sich und zünden sich jeder eine Zigarette an. Lassen dann ihre Augen im
Zimmer suchend umhergehen. Während ich noch beim Haarkämmen bin,
raffen sie mein letztes Bettstück und laufen damit raus. Ich hielt noch
einen Zipfel fest und schrie laut um Hilfe, aber bis mich jemand hörte,
waren die Räuber schon durch den Garten entlaufen.
Tante Annchen und
ich vernagelten nun wieder das Fenster, wodurch sie ins leere Zimmer
eingestiegen waren und schoben einen großen Schrank davor, aber die
Banditen kamen ja auch durch die kaputten Kellerfenster, weil wir die
Haustür gut versichert hatten. Nun kamen mir doch die Tränen, wie ich
auch noch in der Küche sah, dass sie den Schrank revidiert hatten, das
letzte bisschen Zucker aus dem Näpfchen und die 2 kleinen Äpfel, die
unsere Weihnachtsgabe sein sollte, aus der Kaffeekanne, in der ich sie
versteckt hatte, genommen hatten. Sollten wir gar keine Weihnachtsfreude
haben? Tante Annchen brachte mir eine schöne dicke Wolldecke mit
Stempel, eine deutsche Militärdecke, die sie unter Trümmern eines
ausgebrannten Hauses gefunden und sagte: "Du sollst nicht frieren
und auch nicht hungern, indem sie mir noch ein Körbchen mit Kartoffeln,
drei Zwiebeln, 1 Fläschchen Speiseöl und obenauf noch 2 Pfefferkuchen
überreichte. Ich fiel ihr um den Hals und dankte ihr von Herzen und sie
hat mich dann noch mit Opa zur Weihnachtsfeier um 7 Uhr abends
eingeladen. Opa kam um 3 Uhr ganz stolz von seiner Arbeit heim mit 20 Zlotys und 2
Weißbrotstrietzeln mit Mohn bestreut.
Ich empfing ihn mit schöner
Kartoffelsuppe mit Zwiebeln eingebraten, aber er wollte doch durchaus
noch seinen selbstverdienten Strietzel anschneiden und ich kochte noch
Kaffee dazu und so feierten wir beide glücklich und dankbar schon
Heiligabend. Er erzählte mir, dass seine Arbeit in der Fabrik nicht
schwer sei, vorläufig wird nur erst das ganze eingerostete Werkzeug
geputzt und gebrauchsfertig gemacht, nur kann man dabei nicht warm werden
im kalten Raum, aber einige Wochen will er es schon aushalten bei 20
Zlotys pro Tag und 2 Broten pro Woche. In froher Weihnachtsstimmung
gingen wir rauf zu Tante Annchen, bei der die anderen Hausbewohner mit
den Kindern schon versammelt waren. Froh erklangen unsere
Weihnachtslieder, während der Tannenstrauß auf dem Tisch mit den 4
selbstgemachten Lichtlein (aus kleinen Stümpfchen) solch traulichen
Schein verbreitete. Annchen las die Weihnachtsbotschaft vor und betete,
die Kinder sagten ihre Verslein und wir haben noch eins ums andere der
schönen Weihnachtslieder gesungen. Fast war es wie früher und doch,
und doch. Kein Gruß von unseren Kindern und sonstigen Verwandten. Ob
sie wohl noch leben, und wo? Unser Vater weiß es und unter seinem
allmächtigen Schutz in seiner großen uns allumfassenden Liebe und
Gnade wollen wir still vertrauend ruhen und glücklich und dankbar ihn
auch in der Trübsal suchen und ehren. An den Feiertagen haben uns auch
die Feinde nicht belästigt.
Weihnachten
1945
Es wurde aber gleich nach dem Fest grimmig
kalt, sodass die Fenster, die doch ziemlich undicht waren, ganz dick
befroren. Der Ofen, in dem das Feuer nicht ausging, strahlte wohlige
Wärme aus, aber aus dem Haus durfte man sich nicht raus wagen, zumal
wir alle 4 Familien nur noch einen Mantel hatten, den aber die junge
Frau Krause, die täglich zur Arbeit ging, anziehen musste. Ich besaß
nur noch eine ganz ausgescheuerte, verstopfte Strickjacke, die mir ein
Pole auf vieles Bitten noch zurückgab, während er mit Muttchens guter,
fast neuer Jacke und Mantel loszog. Auch die letzten Schuhe nahm er mir
noch. Mit dünnen Segeltuchschuhen und Nacht- und anderer Jacke ging ich
meine Strickarbeit für eine Polenfrau abliefern in den Mittagstunden,
wo die Sonne doch schon etwas wärmte.
Eben bin ich über die wacklige
Notbrücke des Elbingflusses gegangen, da tritt ein grinsender, etwa
15jähriger Polenbengel auf mich zu und stülpt mir eine schöne, echte
Sealpelzmütze auf den Kopf, die er sich eben abnimmt und sagt: "Du
nimm Damenmütze, für mich nicht gut." Ich dankte ihm lächelnd,
schüttelte aber, als er sich etwas entfernt hatte, erst noch etwa
drinsitzende Mitbewohner tüchtig raus. Dann ging ich durch die Trümmer
der Wilhelmstraße nach dem Alten Markt zu, wo mich plötzlich zwei
halbwüchsige Polenbengels anhielten, mir die alte Jacke aufrissen und
mich nach Geld oder Wertsachen untersuchten in ganz gemeiner Weise. Ich
hatte ja nichts bei mir mir als einen kleinen Beutel Kartoffeln, die ich
für meine Arbeit bekommen hatte und schrie nun aus Leibeskräften um
Hilfe. Sah auch gleich eine Russenpatrouille auf Rädern um die Ecke
biegen, von denen einer den Polenbengels, die sich schnell hinter den
Trümmern versteckten, nachsetzte, hörte Schläge und Geschrei und dann
im Augenblick war er wieder neben mir, reichte mir ein paar gute, feste
Lederschuhe, während er in schneller Fahrt den Kameraden nachsetzte. Es
ging alles so plötzlich, dass ich kaum danken konnte, aber ich wusste,
mein Vater hat Acht auf mich und bat ihn, den jungen Russen für seinen
Liebesdienst zu segnen.
Zuhause mein Erlebnis erzählt, sagte
Annchen, wir werden lieber immer zu Zweien gehen. Die Schuhe passten mir
wundervoll, aber leider sollte ich sie nicht lange tragen. Schon in der
nächsten Woche ließ eine Polenfrau, die sich durch den Keller
eingeschlichen hatte sie mitgehen und auch meines Muttchens schöne
schwarze Kittelschürze, die hinter der Tür hing. Ich bemerkte es erst
später, wie sie ganz freundlich, unterwürfig mich in der Küche bei
meiner Wäsche aufsuchte und einige Teller kaufen wollte, für die sie
mir auch wirklich einige Zlotys gab. Wie ich ins Zimmer zurückkam wurde
ich den Raub gewahr. Also wieder um ein gutes Andenken an mein Muttchen
ärmer geworden. Opa Kontowski bekam dick angeschwollene Finger, mit
denen er seine Arbeit in dem Frost nicht mehr tun konnte und wurde von
der Fabrik entlassen. Er saß nun meistens ganz verzagt, den Kopf in den
Händen, im Ofenwinkel. In einer Nacht hatten ihm durch den Keller
eingedrungene Polen die dicke, warme Jacke, die er immer auf dem
Fußende im Bett liegen hatte, gestohlen, ohne dass er es bemerkt hatte.
Nun konnte er sich kaum noch raus wagen. Ich ging ja mit Annchen noch
wieder allerlei zusammensuchen und schusterte ihm wieder eine warme
Joppe zurecht, auch Filzfäustlinge nähte ich ihm, denn das Wasserholen
und Holzbesorgen war doch immer sein Amt und brachte ihm auch etwas
Zerstreuung. Er war überhaupt recht gleichgültig in Bezug auf
Körperpflege. Zum gründlichen Waschen jede Woche ein Mal musste ich ihm
immer ernst zureden und zum Wäsche wechseln. Weil er ein übles
Darmleiden hatte, ging er immer mit leicht gelbem Pflaster auf dem
Hosenboden rum. Ich war ja auch schon ziemlich abgestumpft, aber so ganz
leicht wurde mir das Waschen und Flicken seiner Sachen nicht. Wiederum
war er aber auch sehr dankbar, wenn ich ihm immer saubere Sachen zum
Wechseln hinlegte und tat mir zuliebe, was er nur konnte.
So kam
er einmal mittags mit glückstrahlendem Gesicht schnell aus der
Nachbarschaft, wo er beim Holzhacken beschäftigt war, herüber und
brachte mir 2 noch heiße Kartoffelpuffer zwischen Brotschnitten und
sagte, er habe einen Teller voll bekommen. So teilten wir Freud und
Leid. Wurden ja von den Polen auch für Eheleute gehalten und sie
lachten ganz verschmitzt, wie ich es verneinte und hielten mich wohl
für schlecht, aber Gott wusste ja in seiner Weisheit, warum er uns
zusammenführte. Der alte Opa konnte nicht weiter und ich wäre wohl
mutlos verzagt, ohne Pflichten, jemand zu umsorgen zu haben. Kartoffeln
und Brot wurden jede Woche teurer. Das Pfd. Brot (ziemlich schwarz)
kostete schon 40 Zlotys und musste die ganze Woche für uns Beide
reichen. Opa hatte immer Hunger und ich auch, weil wir nur 2 Mahlzeiten
am Tage essen durften. Morgens gegen 10 Uhr Wassergrütze und 1 Schnitte
Brot dazu und zwischen 3 - 4 Uhr Kartoffeln mit Grütze dick
zusammengekocht, meist ganz ohne Fett. Wenn dann gegen Abend der
Magen knurrte, gingen wir zu Bett. In der Ofenröhre stand zwar heißer
Kaffee, aber wo Brot hernehmen. Da haben wir wirklich so ganz von Herzen
immer die 4. Bitte gebetet und doch stöhnte Opa, wenn er nicht
einschlafen konnte: "Wir werden ja doch verhungern müssen",
was ich ihm immer auszureden versuchte. Sind wir nicht doch mehr, denn
die Sperlinge?
Inzwischen war es März geworden und
Frühjahrshoffnung erfüllte das Herz. Da die Sonne an manchen Tagen
schon recht wärmte, wollte Opa sich auch zu den Aufräumungsarbeiten in
den Straßen melden. Ging auch 3 Tage schon früh um 8 Uhr mit 2
Schnitten trocken Brot und heißer Kaffeeflasche los, kam aber schon,
von einem mitleidigen Kameraden geführt, früher nach Hause als sonst
und zwar als zu alt entlassen, weil er mehrmals zusammengesunken war.
Den Verdienst sollte er sich am Sonnabend holen, kam aber ganz leer
zurück. Nun saß er wieder mutlos in seinem Winkel am Ofen, wickelte
mir Wolle zum Stricken, die er von alten unter Schutt gefundenen Sachen
gerebbelt hatte, räumte die Keller immer wieder auf und besorgte
Anmachholz.
An einem Morgen Mitte März (es schneite etwas), sagte, er
werde nur gleich Wasser holen, sonst kommt noch mehr runter. Mit dicken
Handschuhen und großen Holzschuhen strampelte er los und da fing es an
zu schütten, als wenn Frau Holle alle Betten auf einmal ausschüttelte.
Ich stand am Fenster und sorgte mich, weil Opa so lange blieb. Da kommt
mit einmal ein großer Mann angestampft mit einem Sack auf dem Rücken,
ganz weiß beschneit und fragte, ob ich Kartoffeln brauche. "Oh
ja", sagte ich, "sehr nötig, habe keine einzigen mehr, aber
auch keinen Pfennig Geld" und die Augen stehen mir voll Tränen. Er
setzte kurz entschlossen den Sack, sagte: "Ich lasse sie ihnen,
denn die Frau in ihrer Nachbarschaft, die die Kartoffeln bestellt hat,
ist nicht zuhause und ich habe keine Lust, in dem Wetter noch
einmal die Last zurückzuschleppen. In 8 Tagen komme ich wieder
und wenn sie dann Geld haben, werden sie mir die 25 Pfd. Kartoffeln
schon bezahlen."
Ich hatte mich noch nicht von dem freudigen
Schreck erholt, da kommt Opa wie ein Schneemann reingestampft, zieht ein
Papier aus der Tasche und sagt: "Sehen sie doch mal, was da drauf
steht, das gab mir eine Polenfrau sehr anständig in Pelz gekleidet und
sagte, ich soll morgen bei schönem Wetter ihr Holz hacken kommen."
Ja, drauf stand auf dem feuchten Papier rein gar nichts, aber beim
Auseinanderfalten fiel ein 50 Zloty-Schein heraus, den wir anstarrten.
Ich zeigte Opa nun noch die Kiste Kartoffeln unter dem Bett und da
hätten wir uns fast umarmt, was ja nun aber doch nicht ging. Aber
gleich schob ich einen Topf mit Kartoffeln in den heißen Ofen und es
dauerte nicht lange, so labten wir uns an den wundervollen
Pellkartoffeln in Salz getunkt und heißem Kaffee dazu. Die Zwischenzeit
bis zum Garwerden benutzten wir zu unserer Morgenandacht und dankten
unserem treuen Gott für seine Fürsorge.
Opa war ganz unternehmend
geworden durch die Stärkung und wollte wieder in den Keller gehen,
aufräumen. Ich wehrte ihm, er solle sich ausruhen, da er morgen zum
Holzhacken gehen muss. Da fiel ihm ein, dass er gar nicht gefragt, wo
die Frau wohnt. Ich sollte nun am Fenster aufpassen, wenn sie aus der
Stadt zurück kommt und sie kam auch bald, dass ich ihr herzlich danken
konnte, gab mir noch etwas vom eingekauften Weißbrot und sagte: "Für
das Geld kaufen sie Brot," indem sie mir freundlich zuwinkte.
Inzwischen
glänzte und flimmerte die Sonne auf dem zartweißen Schnee und in
meinem Herzen strahlte sie auch, sodass ein Lob- und Danklied nach dem
anderen mein kleines Zimmerchen erfüllte, während ich fleißig
strickte. Gegen Mittag kommt Opa aus dem Keller rauf mit strahlendem
Gesicht, in einem Arm ein großes Glas mit eingewecktem Schweinebraten,
noch ganz fest zu, unbeschädigt, in der anderen Hand ein kleineres Glas
mit Fett und noch eine Flasche Essigessenz. Ich frage: "Wo haben
sie denn das her?" Er sagte: "Das ist mir selbst nicht klar,
wo ich doch schon so oft aufgeräumt habe, wollte ich heute, wo die
Sonne so hell nun schien, nochmals den großen Haufen Schutt aus der
Ecke schaffen. Da fand ich in alten Wollsachen eingewickelt ganz unten
diese schönen Sachen und nun machen sie mal ein anständiges Mittag,
denn heute ist Feiertag, da essen wir dreimal." Gleich wollte er
das große Fleischglas aufmachen, aber ich wehrte ihm: "Opa, dann
werden wir beide krank, wo wir nun schon so lange Zeit ganz fettlos
gegessen haben und ich wasche Ihnen dann nicht mehr die Hosen. Wir gehen
nach der Stadt und sie werden sehen, dass ich dafür Lebensmittel für
mindestens 14 Tage eintausche, wovon wir gesund bleiben."
Er
musste damit zufrieden sein, weil er ja bei mir doch wohnte, ich die
Frau im Hause war und wie ich zu Mittag nun eine herrlich duftende
Zwiebelsoße machte zu den wunderschönen Kartoffeln, die er hauchdünn
geschält hatte, machte. Da war er ganz zufrieden, setzte sich in seine
Ofenecke und machte ein Nickerchen. Ich habe bei meinem Strickzeug immer
Lob- und Danklieder gesungen, bis auf einmal Annchen runterkommt, um zu
sehen, was eigentlich los ist. "Deine Hallelujas schallen ja
immerfort durchs ganze Haus, du hast wohl was abzugeben?" Na sie
freute sich mit mir und wir hatten alle eine Glaubensstärkung, die wir
so dringend nötig brauchten, denn es stand uns schon wieder eine
schwere Prüfung bevor.
Alle Hausbewohner, auch die Kinder bekamen die
Krätze, durch die Russen und Polen eingeschleppt. Nie hätte ich
geglaubt, dass diese schreckliche Hautkrankheit einem so entsetzlich
zusetzen kann, dass man ganz am Leben verzagt. Oh, dieses furchtbare
Brennen und Jucken, dass man Tag und Nacht keine Ruhe findet. 7 - 8 mal
bin ich nachts aufgestanden, habe den ganzen Körper mit
Salz-Essig-Wasser und anderem Zeug abgerieben, rohe Kartoffeln gerieben
und auf die brennenden Arme gelegt. Gott unter Tränen ganz innig
gebeten, mich noch mal von dieser Seuche zu befreien. Ich will ihm auch
nie vergessen, zu danken. 1/4 Jahr lang hat es gedauert, bis wir wieder
alle gesund waren, aber so elend geworden durch die qualvollen,
schlaflosen Nächte. Zwei so niedliche Kinder starben, auch Oma Krause,
trotzdem das russische Rote Kreuz uns schon Heilmittel gebracht hatte.
Ich wurde erst heil, nachdem ich dem Rat der Nachbarin folgend wie sie,
Schwefelblüte mit dem Essen genommen hatte.
Nun war es Frühjahr
geworden und die Polen holten uns zur Arbeit, zum Gartenumgraben, der 2
Jahre festgetreten und ganz verkrautet war. Annchen sagte: "Komm
nur mit, wenn du auch nicht viel tun kannst, wir bekommen wenigstens
fettiges Essen, ohne das kannst du nicht mehr hochkommen." Sie war
ja 10 Jahre jünger und hat mich auch immer geschont und doch war ich
wie zerschlagen und zum Umfallen todmüde mit meinen 69 Jahren. Nie in
meinem ganzen Leben habe ich so schwere Arbeit tun brauchen. Hatte mich
bei dem kalten Wind auch so stark erkältet, dass ich eine sehr
schmerzhafte Gallenkolik bekam, die mich 3 Tage ans Bett fesselte.
Nichts konnte ich essen. Opa weinte und ich flehte nur noch um
Erlösung. Frau Neumann, meine treue Stubennachbarin, deren 3 Kinder ich
oft versah, wenn sie in Arbeit ging, brachte mir am 3. Tag Hafergrütze
und fütterte mich mehrmals am Tag und ich erholte mich noch wieder,
trotzdem ich viel lieber heimgegangen wäre, in die Wohnungen des
Lichts, wo mein Herzmütterlein mir vor 1/2 Jahr voranging.
Nachdem ich
wieder etwas gekräftigt war durch die liebende Fürsorge aller
Hausbewohner, besuchte ich die Gräber meiner Lieben und bepflanzte sie
mit blühenden Osterlilien und Primelstauden, die ich aus den halb
verschütteten Hausgärten ausgrub. Auf dem Grabstein meines lieben
Mannes stand ja auch schon mein Name. Ach könnte ich doch auch schon
dort ausruhen von allem Weh und Elend des schrecklichen Krieges. Werden
wir überhaupt noch länger diese Schreckensherrschaft der Russen und
Polen aushalten? Täglich sterben viele Menschen in unserer Nähe an
Entkräftung, am Hungertyphus, besonders die alten Leute. Oh diese
Ungewissheit über unsere Lage. Nie hören wir etwas von unseren Lieben,
ob sie noch am Leben sind? Öfter gehen wir auf der Postsammelstelle
nach Briefen fragen, die da haufenweise liegen. "Nix da," ist die Antwort
und nachher schwimmen sie auf dem Elbingfluss umher oder werden
säckeweise verbrannt. Herr und Frau Rehrmann haben einmal Nachricht von
ihrem Sohn bekommen, der sie auffordert, nach dem Westen zu kommen und
sie entschließen sich mit Herrn und Frau Reise mit einem guten Polen im Auto
mitzufahren. Ja, sie können ihn noch gut bezahlen. Ebenso haben schon
viele, die noch Geld haben, die Stadt verlassen. Tante Annchen tröstet
mich immer, dass auch für uns die Stunde der Erlösung kommt.
Wir
nähren uns jetzt hauptsächlich von Wildspinat, jungen Nesseln und
Girsche zusammengekocht mit etwas Mehl und wenn möglich Milch
angerührt. Es schmeckt prächtig. Wir essen ganze Schüsseln voll aus
und sind doch nach einer Stunde wieder hungrig. Opa sagt: "Wir
werden ja doch verhungern müssen," aber ich rede es ihm immer aus:
"Wenn Gott das wollte, hätte er uns schon längst verhungern
lassen. Nein, er wird uns durchbringen." Ich stimme wieder einmal
an "Harre meine Seele usw." Opa brachte einen großen Korb
voll Kartoffelschalen, die er von den Russen bekommen hatte, die in
unserer Nähe in einem Hause als Wachmannschaften lagen. Ich suchte die
besten aus, wusch sie mehrmals und trieb sie gekocht durch ein Sieb. Da
gab es mit Zwiebeln und Petersilie gewürzt eine feine Kartoffelsuppe.
Wie die Wachmannschaften plötzlich abzogen, sehe ich, viele Frauen
schnell in das Haus laufen. Ich flink nach und erwische auch noch einen
Topf mit Erbsen und etwas Grütze, Opa brachte noch Kartoffeln, die aber
meistens verfault waren. Na, wir waren ja nicht verwöhnt, freuten uns
vielmehr über unseren Vorrat Tante Annchen kommt
runter und erzählt mir die betrübende Neuigkeit, dass wir Miete zahlen
sollen für unser Zimmer. Da kommt auch schon ein polnischer Beamter,
misst die Zimmer, schreibt unsere Namen auf und den Preis: "200
Zlotys" in 3 Tagen zu zahlen, sonst raus. Ja, woher Geld nehmen?
Ich gehe am 3. Tag und schildere unsere Lage, dass wir kein Geld haben,
um nur Brot zu kaufen. Der Beamte, der deutsch verstand, war mitleidig
und sagte: "Du alt und krank, Mann auch krank und starr, werdet
bald ausgewiesen, dein Zimmer zu klein, kannst drin bleiben. Frau
Meißner, die Annchen solange betreut und gut gepflegt hatte, war
inzwischen auch 89jährig lebensmüde heimgegangen, und wir begruben sie
an der Seite ihres Gatten in einem Sarg vom Unterteil eines
Kleiderschrankes, den sie sich selbst hatte machen lassen, denn sie
hatte durch die vielen Wertsachen, die ihr Mann zusammengetragen hatte,
immer noch Geld auch zu guter Pflege bis zu ihrem Tode.
Mein armes, so
ganz selbstloses Mütterlein, das ich so elend in Lumpen gewickelt
begraben musste, strahlte dort im ewigen Licht wohl aber noch heller,
reiner, ganz so, wie ich in einem so wunderschönen Traum 14 Tage nach
ihrem seligen Heimgang sah. Eine sonnenbestrahlte Waldwiese sah ich von
rot leuchtendem Buchen umsäumt, an deren einem Stamm mein Mütterlein
lehnt, ganz verschämt nieder schaut, weil Tante Horn ihr ein weiß
glänzendes Kleid überzieht und eben bemüht ist, ihr eine kunstvolle
Gürtelschleife zu binden, in dem sie vor ihr kniet. Sie wehrt ab, aber
Tante Horn sagt: "Lass nur, dich will heut der Vater ehren."
Da kommen auch schon den Buchengang entlang lauter würdige Gestalten in
Amtstracht. Voran Vater Hinrichs, verbeugt sich vor meinem Muttchen und
dankt ihr für alle Liebesdienste, die sie ihm getan, wenn er in ihrem
gastlichen Hause weilte. Wie sie abwehrte, sagte er: "Du hast mir
immer meine kranken Füße bepflastert und so liebliches,
selbstgebackenes Brot vorgesetzt." So kamen sie einer nach dem anderen
der vielen Gottesboten, denen mein Muttchen in selbstloser, liebender
Art gedient hatte, wenn sie in unserem Haus gasteten: Prediger Karl
Meyer, F. W. Herrmann, Kraldorfer, Schirrmann, Droste, Piepereit,
Klempel, Gritzki und später auch Prediger Horn und immer nahm es gar
kein Ende, und alle dankten meinem Muttchen für ihre selbstlosen
Liebesdienste und sie wusste gar nicht, wo sie hingucken sollte. Ich
wollte zu ihr treten und sie in meine Arme nehmen, da erwachte ich , war
aber den ganzen Tag so beglückt durch den wunderschönen Traum und
bitte seither Gott mehr denn je, mich doch auch so demütig und
selbstlos zu machen, wie mein herzliebes Mütterlein es war.
Opa
hatte die Blumenbeete vor unserem Haus umgegraben und aus anderen
Gärten an verbrannten Häusern Rosen und andere Blumenstauden darauf
gepflanzt und ich noch 2 Gemüsebeete besät. Auch hielten wir vor dem
Haus und drinnen immer schön Ordnung. Hatten ein Stück Gardine vor dem
Fenster. Vor dem Chaiselongue, das mir Herr und Frau Rehrmann als
Lagerstatt vererbten, wie sie Elbing verließen, stand auf dem alten
Teppich ein netter runder Tisch mit bunter Decke, meistens ein
Blumenstrauß darauf, Opas großer Korbstuhl am Fenster und ich hatte
mir auch noch einen ziemlich guten gesucht und auch ein Nähtischchen.
Da sah es ganz nett bei uns aus. Kleiderschrank brauchten wir ja auch
keinen mehr, weil wir nichts mehr besaßen, als was wir auf dem Leibe
trugen. Wenn ich mir aus verschütteten Häusern wieder allerlei Sachen
zusammengesucht, gewaschen und von 12 - 14 Stücken ein Kleid für
Sonntag zurecht geschneidert hatte, nahmen es mir die verstohlenen Polen
meistens gleich wieder fort. Immer wieder kamen sie oft ganz freundlich,
wollten nur Wohnung besehen, sagten dann: "Zu klein." Aber
während sie sich unterhielten, hatte die Frau dann schon ihre Augen in
alle Winkel gehen lassen, wo sie hinter alten Lappen noch etwas
vermutete und ließ alles nur irgend brauchbare mitgehen.
Zuletzt
drangen drei betrunkene Polen in einer Sonntagnacht ein und weil sie
sonst nichts fanden, nahmen sie mir das letzte Stück Brot und ein
Streifchen Speck fort, das unser Sonntagmittag sein sollte. Oh, diese
Bande!, und ich musste ihnen auch noch mit den Holzspänchen, die Opa
zum Feuermachen geschnitzt hatte, leuchten, weil sie kein Licht hatten.
Alle Tage baten wir Gott immer innig um Erlösung und endlich war sie
näher, als wir gedacht.
Ein polnischer Beamter kam eines Mittags, am
31. Juli 1946 und brachte nach oben Frau Frost, die bei Annchen wohnte,
einen Auswandererschein, wobei er auch meinen Namen nannte. Ich rief
laut "hier!" und hielt bald darauf den Schein in zitternden
Händen. Da stand drauf, dass Opa Kantowski und ich mich am anderen
Morgen, früh um 6 Uhr am Hafen, ein Stück am Elbing entlang, in der
Nähe von Englisch Brunnen, mit unserem Gepäck und Lebensmitteln für
14 Tage, Ausweis usw. einfinden sollten. Ja, wo sollte ich Lebensmittel
hernehmen? Ich ging zu den ukrainischen Geschwistern, bei denen wir uns
sonntags immer zur gemeinsamen Andacht versammelten. Die gaben mir 1
Vierpfundbrot, 1 Büchschen Fleisch und ich durfte mir noch im Garten
Stachel- und Johannisbeeren pflücken, von denen ich, zuhause
angekommen, Suppe kochte. Eine Polenfrau aus der Nachbarschaft wollte
abends mein Chaiselongue holen und brachte mir dafür Kartoffeln, etwas
Grütze, Fett und einige Löffel Maismehl, von dem ich einen Topf
Pudding zum Mitnehmen kochte (natürlich nur mit Wasser), aber etwas
Zucker bettelte ich ihr noch ab zum Suppesüßen.
Unser letztes
Mittagessen war dann ganz feudal, Kartoffeln mit Grütze, sogar mit
etwas Fett drin. Ich hob noch einen Kochtopf voll zum Mitnehmen auf,
auch den Pudding und die Beerensuppe. Das Brot füllte gerade den
kleinen Brotkasten aus, 2 Messer und Löffel hatten auch noch Platz und
unter dem Brot fest eingewickelt hatte ich 2 Sparkassenbücher. Sonst
hatten wir ja fast nichts zu packen. Opa hatte einen kleinen Rucksack
mit etwas Wäsche, Handtuch und Seite und etwas Lebensmittel. Ich hatte
den Korb mit Brotkasten und den anderen Esswaren und eine kleine alte
Steppdecke, in die ich 2 Kopfkissen und die Militärdecke eingerollt
hatte, auch Muttchens Sparkassenbuch in einem Nähkasten mit drin, alles
mit starkem Strang gut verschnürt, so zogen wir aus am anderen Morgen
vor 4 Uhr, denn die Russen hatten ja die Uhren 2 Stunden früher
gestellt. Geschlafen hatten wir fast gar nicht mehr die letzte Nacht in
der Heimat, nur im Stuhl sitzend und auch vor Aufregung nicht.
Tante
Annchen fuhr Frau Frosts Sachen auf einem kleinen Handwagen und ließ
mich meinen Korb auch raufstellen, wobei ich dann hinten schob und mein
Rücken so müde wurde vom ganz gebückt gehen. Wie die Kinder Israel
aus Ägypten zogen wir aus, auch so hoffnungslos traurig, aber wir sahen
die Sonne aufgehen auf unserem Wege durch Schutt und Asche und Trümmern
der Heimatstadt und so schön und strahlend stieg sie auf, als wollte
sie uns zurufen: "Seht nur auf mich, ich leuchte euch!"
Annchen machte mich darauf aufmerksam und wir beide sangen leise
miteinander "Oh Jesu, meine Sonne, vor der die Nacht verfleucht."
Nach mehrmaligem Ausruhen und Begrüßen mit anderen Flüchtlingen, die
demselben Ziel zustrebten, erreichten wir endlich den Anlegeplatz am
Elbingfluss, wo schon viele Flüchtlinge, meist Mütter mit kleinen
Kindern und alte, kranke Leute sich mit ihrer geringen Habe gelagert
hatten und von der Sonne bewärmen ließen. Wir taten es ihnen gleich,
weil von den polnischen Herren Beamten noch nichts zu sehen war.
Tante
Annchen nahm von uns Abschied mit recht schwerem Herzen, denn sie musste
ja noch unter den Polen bleiben als gute Arbeitskraft, erst 58 Jahre
alt. Mit diesem 1. Transport durften nur die Alten und Kranken mit. Die
faulen, schlampigen, versoffenen Polen, die alles gute Land brach liegen
ließen, dass das Unkraut alles mannshoch überwucherte, besannen sich,
wenn sie mal nüchtern wurden, dass sie vielleicht doch im Winter
hungern müssten, wenn sie im Sommer nichts bebauten und holten dann
alle irgend kräftigen Frauen zur Gartenbestellung. Das war mehr als
Tierquälerei in dem festgetretenen Boden, wo das Unkraut 2 Jahre lang
gewuchert hatte. Die Abwässerungsgräben waren alle voll stinkendem
Wasser. Die Wiesen und flachen Landflächen überschwemmt und
alles wimmelte voll Ungeziefer. Kein Stückchen bebautes Land, kein
Erntefeld, keine Kuh auf der Weide sahen wir hier außerhalb der Stadt.
Oh wie öde und trostlos alles überall, nur die Greuel der Verwüstung.
Ja und es war doch Erntezeit, bald der 1. Juli, und wir armen
Heimatlosen hockten und lagen im hohen Unkraut in der glühenden
Mittagsonne und warteten, was mit uns geschehen sollte. Unsere
Reisezehrung wurde dabei weniger, besonders der Pudding und die
Beerensuppe waren schon aufgegessen.
Endlich gegen 2 Uhr erschienen
einige polnische Beamte, ließen die großen Tore einer umzäunten
Baracke immer 5 Minuten öffnen, bis dann ein Schub Flüchtlinge sich
durchgedrängt hatte, deren Schein von bewaffneten Posten revidiert
wurde und die dann die Tore wieder schlossen und sich mit
aufgepflanztem Bajonett vorstellten. Wer ihnen Zigaretten oder Schnaps
gab, den ließen sie auch gleich noch durch. Wir Ärmsten, die wir
nichts hatten, wurden erst nach 12-stündigem Warten gegen 5 Uhr
durchgelassen, in den Baracken von grinsenden Polen entlaust, das
Gepäck gewogen (na unseres war nicht zu schwer) und dann in die
bereitstehenden 5 zusammengekoppelten Frachtkähne, die einem großen
Schlepper angehängt waren, eingeladen wie das Vieh, nur dass kein
Strohlager war, worauf wir uns hätten setzen oder zur Nacht legen
können. Dazu war ja auch kein Platz, weil wir recht eingepfercht mit
eingezogenen Knien nur auf unserem Gepäck hocken konnten. Opa war nicht
von meiner Seite gewichen und entdeckte auch noch ein Plätzchen, wo wir
den Rücken gegen die Bretterwand lehnen konnten.
Wie wir endlich in
Fahrt kamen, fragten viele Frauen: "Wo geht es nun eigentlich
hin?" Einige antworteten "nach Russland", andere
"nach Danzig erstmal" und ein Mann wusste zu erzählen, dass
wir von den Briten angefordert seien und unter deren Schutz stehen. Wir
waren ja so gleichgültig, so abgestumpft schon, dass uns alles egal
war, nur raus von den Polen. Einige Frauen mit müden, weinerlichen
Kindern auf dem Schoß fingen an zu singen, während sich die Schiffe
weiter von unserer Heimatstadt entfernten: "Nun ade, du mein lieb
Heimatland" und "Muss i denn, muss i denn zum Städtele
hinaus." Wie die liebe Sonne nun so rotgolden ins Wasser tauchte,
stimmte ich an: "Goldne Abendsonne usw." und viele sangen alle
Verse mit, auch nachher noch "Meine Heimat ist dort in der Höh"
und "Heimatland, Heimatland, oh wie schön bist du." So
trösteten und ermunterten wir uns untereinander und fanden uns auch
zusammen, die wir Pilger nach der ewigen Himmelsheimat waren. Ehe es
ganz dunkel wurde, bekamen wir noch alle durch das britische Rote Kreuz
etwas Verpflegung, weil wir ja auch in die britische Zone nach Holstein
geschickt werden sollten, wo wir es gut haben sollten. Plötzlich, wie
es ganz dunkel war, hielten alle Kähne bei einer Brücke und es wurde
uns gesagt, dass es morgen früh weitergeht.
Also versuchten wir
im Hocken zu schlafen so gut es ging. Die Nacht war sternklar, aber lau
und bald graute ja auch der Morgen. Gegen Mittag bekamen wir Danzig in
Sicht, wo früher die Dampferfahrt nur 3 Stunden dauerte. Beim Ausladen
war immer der Stärkste der Erste, also kamen Opa und ich ziemlich nach
hinten in den Trupp, den die gräulichen Polen mit Kolbenstößen in die
Knie von hinten vorwärts trieben in sengender Mittagshitze wohl 1
Stunde lang bis zu einer ausgebrannten Wiese als Lagerplatz ganz ohne
Schatten. Todmüde sanken wir auf den verbrannten Rasen nieder und
schliefen mit einem Tuch über die Augen gedeckt ein. Zerlumpte,
schmutzige Polenweiber gingen durch die Reihen und boten Brötchen,
Wurst usw. an, auch waren Buden aufgestellt, wo es etwas zu trinken gab.
Opa hatte auch großen Durst und ich gab ihm von den gedörrten
Brotwürfeln, die ich einmal von einem mitleidigen Russen bekommen
hatte, denn wir hatten ja keinen Pfennig Geld. Vor Dunkelwerden mussten
wir uns zu Vieren zum Abmarsch aufstellen, wieder eine weite Strecke
wandern, bis wir in die schmutzigen Viehwagen eingeladen wurden, immer
50-60 Personen mit ihrem Gepäck, worauf man hocken konnte, diesmal ich
mit Opa mehr in der Mitte des Wagens, uns gegenseitig den Rücken
stützend.
Wenn wir nun bald dachten, ein Stück weiterzukommen, hatten
wir uns geirrt, denn der Zug blieb plötzlich auf offener Strecke
stehen. Die polnischen Beamten reichten in jeden Wagen 1 Eimer für
unsere Notdurft und machten die Türen zu. Ein ziemlich beherzter alter
Mann bedeutete ihm aber, dass wir dann am Morgen alle tot sind in der
Hitze und der Luft zum Schneiden, worauf er eine Tür aufmachte und sich
mit aufgepflanztem Bajonett davor stellte. Wie ihm aber einige alte
Männer Schnaps und Zigaretten gaben, nahm er ihnen sogar den vollen
Eimer ab und schüttete ihn aus, damit er dann wieder von Hand zu Hand
wandern konnte. Auch diese schreckliche Nacht ging vorüber und wir
konnten uns, nachdem uns die Männer rausgeholfen hatten, an der Pumpe
waschen und Luft schnappen. Nun ging es auch endlich weiter nach Stettin
zu, aber wieder bleib der Zug zur Nacht auf freier Strecke stehen.
Dasselbe Manöver. Anderntags kamen wir in Stettin an, das eigentlich
auch nur eine Trümmerstätte war.
Die allerschwächsten Leute wurden in
Lastautos mit ihrem Gepäck verstaut und wir anderen wie eine Herde Vieh
mit viel Geschrei und Kolbenstößen auf einen großen, schattenlosen
Schulhof getrieben, wo wir viele Stunden in der Sonnenglut stehen und
hocken mussten, bis wir in Gruppen eingeteilt wurden zu 50 Personen, 1
Führer oder Führerin bekamen, an die wir uns zu halten hatten. Da
standen und hockten wir nun an 5000 Menschen, Pommern, die noch viel
Gepäck hatten und gut genährt aussahen, Schlesier, die wir nicht
verstehen konnten, die aber gegen uns noch wohlhabend aussahen und dann
der elendeste Zug aus Ost- und Westpreußen. Wir selbst wussten das
kaum, wenn es uns die anderen nicht immer gesagt hätten, dass wir nur
noch in Lumpen gehüllte, wandelnde Leichen waren. Ganz abgestumpft
waren wir durch die lange Schreckensherrschaft der Russen und Polen.
Endlich gegen Abend bekamen wir das erste warme Essen nach 8 Tagen,
Kartoffeln und Grütze, was wir auf unserem Gepäck auf der Erde hockend
auslöffelten, nachher noch warmen Kaffee und ein halbes Brot pro Kopf,
was aber bis zum nächsten Abend reichen sollte.
Unsere zugeteilte
Führerin ging dann mit uns in den halb ausgebrannten Häusern
Unterkunft für die Nacht suchen, wo ich es wieder in besonderer Weise
erfahren durfte, wie gnädig mein Vater im Himmel für mich und Opa
vorgesorgt hatte. Ich wurde mit einer größeren Familie aus Elbing,
Geschw. aus unserer Gemeinde, Großeltern mit ihrem jüngsten, lahmen
Sohn und vier Enkelsöhnen, einer noch klein und weinerlich, in eine
kleine Küche, oben ihm Haus gewiesen, wo wir uns zum ersten Mal auf
unsere, auf den Fußboden gebreiteten Decken ausstrecken konnten und mit
dem Rucksack und dem Korb bald fest einschliefen. Doch zuvor suchte ich
noch meines verstorbenen Mannes neues Testament vor und las uns den 91.
Psalm vor, den ich ja auch im Dunkeln fast auswendig sagen konnte und
wir sangen auch noch wieder: "Harre meine Seele usw.". Drei
Tage blieben wir dort in Frauenburg bei Stettin, wo wir morgens und
abends Kaffe und 1 1/2 Brot pro Tag bekamen und mittags eine Wassersuppe
mit einigen Kohlblättern und wenigen Stückchen Kartoffeln drin
schwimmend bekamen. Opa ging mit dem lahmen Jungen noch Holz hacken für
die Küche und brachten die beiden dann noch im Kochgeschirr etwas für
die stets hungrigen anderen Jungen mit.
Ich ging auch mit
anderen Frauen zum Kartoffelschälen. Wir durften uns aus dem Abfall
noch kleine Pellkartoffeln aussuchen, die ich dann gegen Abend in der
Küche abkochte. Unser Gepäck mussten wir mit unserem Namen und der
Gruppennummer versehen, denn es hieß, dass es bald weitergeht, weil
neue Transporte von Flüchtlingen ankamen, abgeben. Das geschah schon am
anderen Tag, wo wir uns gegen Mittag, aber noch ohne Mittagessen,
gruppenweise zum Abmarsch aufstellen mussten. Zuerst wurden wir noch
wieder entlaust. Na zum Glück hatte weder Opa noch ich eine von den
Biestern gehabt. Dann wurde auch das Gepäck noch revidiert, wobei
ich sehen musste, wie brutale Polenbeamten einer Frau, die recht starkes
Haar hatte, alles aufrissen und durchwühlten und wirklich darin noch
Geld versteckt fanden. Da war ich froh, dass mein reiches Haar durch die
Krätze fast alles ausgegangen war. Mir nahmen sie nur Omachens
Sparbuch, das ich im Nähkästchen versteckt hatte, fort. Die paar
Zlotys, für die ich noch für Opa und mich ein Brötchen kaufen wollte
und in dem Gedränge nicht an den Verkaufstisch kam, reichte ich gleich
hin. Das polnische Geld wurde allen abgenommen, aber die meisten hatten
schon dafür Brot, Butter, Wurst, sogar Räucheraale und Kuchen gekauft.
Nur ich hatte wieder nichts ergattern können, war zu scheu, um mir
Ellbogenfreiheit zu verschaffen.
Zu Vieren mussten wir uns mit dem
Gepäck aufstellen. Ich bat Opa, auf mein Gepäck zu achten und meinen
Platz frei zu halten und lief schnell noch in unsere kleine Küche rauf,
wo die auf dem Herd aufgestellten Kartoffeln gar geworden waren. die ich
mir beim Schälen wie die anderen Frauen in die Jackenärmel gesteckt
hatte. War es gestohlen? Ich hatte wirklich Hunger. Und wie freute sich
Opa, als ich auf dem Bahndamm, wo er und die vielen schon angekommen,
lange warten mussten, ich meinen heißen Kartoffeltopf aus der warmen
Umhüllung packte und ihn zum Mittagessen einlud. Das Büchschen Fleisch
hatte ich auch warm gemacht raufgeschüttet, denn meinen Korb trug ich
immer selbst bei mir. Richtige lebhafte Kulleraugen bekam Opa, wie wir
beide unseren Kochtopf leer gelöffelt hatten und ich vergaß meine
Schmerzen in den Knien, wo ich die letzten Kolbenstöße von einem Polen
von hinten rein bekam, weil ich mich verspätet hatte.
Nachdem wir noch
eine gute Stunde an der Bahnböschung gesessen hatten, kam unser Zug und
wir wurden wieder in Viehwagen zu 50 - 60 eingeladen, die aber diesmal
sauber gefegt waren. Wir hörten auch, dass wir nun bald in die
britische Zone kommen werden und merkten es auch, weil wir durch die
offen gelassene Tür bestellte und erntereife Felder sahen und auch
kleine Viehherden auf den grünen Weiden. Ein Anblick, den wir 2 Jahre
lang ganz vermisst hatten. Weit ging die Fahrt wieder nicht. Bei
Dunkelwerden blieb der Zug wieder auf offener Strecke stehen. Zu beiden
Seiten war dunkler Tannenwald und es wurde uns doch etwas unheimlich und
ängstlich zu Mut, wie wir nun noch hörten, dass die Beamten des Zuges
und die Bewachung durch Engländer abgelöst würden und die Polen noch
eine großen Raubzug in der Nacht verüben wollten. Die Türen wurden
geschlossen, die wenigen Kerzen gelöscht und während wir uns ganz
mäuschenstill verhielten, hörten wir, wie die Polen an die Wagen vor
und hinter uns mit Gewehrkolben donnerten: "Aufmachen,
aufmachen!" An unseren Wagen wagte sich niemand ran. Ob sie wohl
die Engelwacht sahen, um die ich und viele Gläubige unter uns gebetet
hatten? Ich sah sie jedenfalls und wir dankten Gott beim Morgengrauen,
wie alles still wurde, für seinen allmächtigen Schutz. Oh, es ist doch
etwas Herrliches, Gotte Kind zu sein und sich bei ihm ganz geborgen zu
wissen.
Unter englischem Zugpersonal ging die Fahrt viel
schneller und wir konnten uns an der schönen Landschaft, Wald und Seen
und fruchttragenden Feldern, saftigen Wiesen mit größeren Viehherden
erfreuen, wo wir so lange nichts als den Gräuel der Verwüstung gesehen
hatten. Nachts 12 Uhr kamen wir in dem großen Durchgangslager Segeberg
an, wo viele große Holzbaracken und Zelte aufgeschlagen waren. Es
mutete uns wie ein riesiges Dorf an. Gruppenweise mussten wir erst
wieder, nachdem uns das Gepäck zur Aufbewahrung abgenommen war, zur
Entlausung und dann zur ärztlichen Untersuchung antreten, aber dann
ging es zum Essenempfang und oh Wunder, oh Wonne, wir bekamen mitten in
der Nacht warmes Mittagessen: Grütze mit Kartoffeln und sogar (wir
trauten unseren Augen nicht) viele Fleischwürfel waren darin und wer an
einem Napf nicht genug hatte, konnte sich noch nachholen. Dann wurden
wir in die Baracken, die aber fast alle schon voll waren, geführt,
bekamen je 2 und 2 noch eine Decke und konnten uns auch zu Zweien auf
einem Strohsack ausstrecken und wenn möglich hochklettern in die 3.
Reihe der übereinander gebauten Pritschen.
Opa hielt sich immer dicht
bei mir, war mein Kind, das sich ganz von mir betreuen ließ und doch
hielten uns alle für ein Ehepaar, was uns ganz gleichgültig ließ. Am
Morgen holte ich ihm auf seine Marke, die ich mitbekam, heißen Kaffee,
Brot und Wurststückchen und Marmelade. Warnte ihn aber, nicht alles
gleich auf einmal aufzuessen und ging ihm dann noch seinen 1/4 Ltr.
Milch holen, wozu er bei der Untersuchung 1 Marke bekommen hatte. Wie
ich wiederkam, hatte er schon alles verzehrt, ohne an sein Magen- und
Darmleiden zu denken. Na, ich hatte dann die Bescherung und er musste
liegen bleiben, bis seine Sachen wieder trocken waren. Drei Tage blieben
wir da, ruhten und erholten uns etwas bei der guten Verpflegung. Für
Opa teilte ich aber das Essen jetzt ein, dass er tagsüber etwas hatte.
Am 13. Juli früh ging es weiter nach Ratzeburg bei Lauenburg/Holst.
Viele Flüchtlinge wurden auch schon auf früheren Stationen ausgeladen.
500 kamen wir nach Ratzeburg, wurden vom Roten Kreuz mit Autos und
Krankenwagen abgeholt nach der Infanteriekaserne Mechhoferstr. 6, die
als Lager eingerichtet, war aber schon ganz überfüllt mit
Flüchtlingen. Wir Ost- und Westpreußen kamen ganz hoch auf einen
großen Bodenraum unterm Pfannendach, wo es bei Tag sehr heiß und
nachts ziemlich kalt war auf loser Strohschütte zu liegen wie die
Schweinchen. Doch nein, zuerst durften wir uns in den großen
Waschräumen nach 14 Tagen zum 1. Mal ordentlich waschen und wer noch
etwas hatte, konnte auch Wäsche und Kleider wechseln. Diese große
Wohltat kann nur der nachempfinden, der in ähnlicher Lage war. Dann gab
es im großen Kantinensaal freies Mittagessen und für Abendbrot und
Frühstück für den anderen Tag Brot, etwas Wurst, Margarine und
Marmelade. Jeder bekam seine Portion und heißen Kaffee durften wir uns
morgens und abends holen. Opa hatte natürlich schon wieder alles
vor Abend aufgegessen und wurde nachts recht krank, sodass ich ihn in
das angrenzende Krankenhaus gleich morgens brachte.
Bei der Untersuchung
hielt mich der Arzt natürlich wieder für seine Frau und ich musste
alle Angaben machen, weil Opa Kontowski vor Schwäche kaum sprechen
konnte. Nachdem er in den Krankensaal gebracht war, musste ich dem Arzt
noch erzählen, wie ich zu dem Opa gekommen bin und er sagte darauf:
"Tapfere, kleine Frau, das ist Nächstenliebe, aber ich sehe, sie
sind auch vollkommen unterernährt und möchte sie vorerst
hierbehalten." Ich wehrte ab, weil andere noch schwächer waren,
als ich. Am 2. Tag sollten wir das Essen bezahlen und ich hatte doch
keinen Pfennig. Da gab mir eine mitleidige Gastwirtsfrau 2,00 Mark und
ich saß dafür im Stroh (denn keinen einzigen Stuhl hatten wir 200
Menschen) und machte ihr ein viel zu weit und lang gewordenes Kleid
passend.
Am nächsten Tag mussten wir alle nach der Stadt gehen zur
Aufnahme unserer Personalien und dann noch zum Roten Kreuz, wo ich auch
ein gutes Tag- und Nachthemd bekam und auf der Fürsorge 5 Mark
Vorschuss. Inzwischen war das Lager etwas geräumt und wir kamen auf
Zimmer zu 8 - 12 Personen, Männer, Frauen und kleine Kinder zu liegen
auf Militätpritschen, etagenweise auf Strohsack mit Kopfstrohkissen.
Decken hatten wir meistens selbst, ich, oh Wonne, auch ein Federkissen.
Vier oder fünfmal musste ich das Zimmer wechseln und kam dann mit einer
6-köpfigen Gutsbesitzerfamilie aus Pommern und einem netten Fräulein
auf Zimmer 66 zusammen, wo ich 1 1/2 Jahre bleiben konnte und mich unter
den christlich gesinnten, anständigen Leuten ganz wohl fühlte,
trotzdem auch der Hausvater, ein Mann in meinem Alter, und sein
15-jähriger Enkel, bald unser aller Vorzug, mit im Zimmer schliefen.
Die Ernährungsfrage war für mich einzelne Person doch recht schwierig,
da Brot, Kartoffeln usw. für uns halbverhungerte Flüchtlinge durchaus
von einer Karte nicht reichen wollten und für das Kantinenessen
(Wassersuppe mit Kohlblättern), wovon man auch gleich wieder hungrig
war, reichten meine 24 Mark, die ich von der Fürsorge bekam (monatlich)
nicht aus, weil gleich 6 Mark für die Lagerstatt im Voraus abgezogen
wurden. Ich besorgte mir aber gleich in den ersten Tage mit anderen
Frauen Heimstrickarbeit für ein Hamburger Kinderheim und wenn ich recht
fleißig strickte, konnte ich 7 - 8 Mark pro Woche verdienen. Musste mir
ja zwischendurch noch immer im nahen Wald Brennholz zum Kochen suchen
und dann das lange Anstehen beim Einkaufen erforderte so viel Zeit und
machte so müde. Öfter ging ich auch mit einer anderen Frau ein paar
Kartoffeln betteln von nahen Gartenbesitzern, wurden aber meistens als
elendes Flüchtlingspack barsch abgewiesen.
Doch hatte ich mir nach
einigen Wochen schon das Reisegeld nach Hamburg-Harksheide zu meiner
verheirateten Schwester zusammengespart, wo ich hoffte, auch etwas von
meinen Kindern und übrigen Geschwistern zu erfahren. Meine Karte kam
erst nach mir an und so stand ich plötzlich ganz unerwartet in Evchens
Küche und sie ließ das elende Bettelweib ruhig an der Tür stehen,
fragte nur vom Herd aus: "Was wollen sie?" Ich antwortete:
"Evchen, kennst du mich nicht?" Da stürzte sie mit
ausgebreiteten Armen auf mich zu und schluchzte an meinem Halse:
"So muss ich dich wiedersehen, meine stattliche, hübsche, frohe
Schwester." Ich wusste ja gar nicht, wie ich aussah, weil ich fast
2 Jahre in keinen Spiegel geguckt hatte, sah nur beim An- und
Auskleiden, wie ich mir die blaugraue Haut auf Brust und Leib
übereinanderlegen konnte. Mein früher so volles, reiches Haar stand in
kurzen, struppigen, grauen Borsten wild um den Kopf und der Mund so
eingefallen, weil ich schon über 1/2 Jahr ohne mein Oberstück
auskommen musste, das mir bei einem Faustschlag ins Gesicht von einem
Russen auf die Steine fiel und in mehrere Stücke zerbrach und nur, weil
ich um Hilfe rief, weil er mir die letzte Strickjacke fortnahm. Nun
erschrak ich ja selbst, wie ich in den kleinen Handspiegel guckte.
Evchen kamen immer wieder die Tränen, wenn sie mich ansah. Sie machte
mich erstmal satt mit ausgesuchten Leckerbissen, machte mir ein Bad und
steckte mich dann in ein schneeiges, weiches Bett. Ich war der verlorene
Sohn, der nach Hause gekommen und fühlte mich wie neugeboren, als ich
nach erquickendem Schlaf am Abendbrottisch meinem lieben heimgekommenen
Schwager von meinen Erlebnissen erzählen wollte. Evchen wehrte mit
nassen Augen, ich kann es nicht hören, weiß alles schon von Lenchen.
Ja meine 10 Jahre jüngere Schwester, die vor 2 Jahren den Anfang der
Schreckensherrschaft bei mir miterlebte und dann zu Fuß die 200
Kilometer von Elbing bis Bischofsburg unter großen Gefahren
zurücklegte, um ihrer einzigen Tochter beizustehen, deren Mann im Felde
war, hatte ihr schon so viel Schreckliches erzählt, wie die Russen ihre
Tochter so zugerichtet hatten, dass das Kind, welches sie erwartete, zu
früh und tot geboren wurde. Sie selbst und die anderen Kinder wurden
auf der Flucht ruhrkrank. Die beiden jüngeren Kinder wurden unterwegs,
wo der Zug halten musste, mit mehreren anderen Leichen in den Schnee an
der Böschung gelegt und die Fahrt ging weiter bis Berlin, wo die
Tochter Hildegard Kurzewski in ein Krankenhaus kam und nach kurzer Zeit
auch gestorben ist.
Die beiden 9 und 10-jährigen Kinder wurden in einem
christlichen Kinderheim in Auerbach untergebracht und
meine Schwester Lenchen nahm meine jüngste Schwester, Eva
Glaesmann, die einzige von uns noch lebenden 8 Geschwister auf, welche
ihr Heim hatte behalten dürfen und hatte sie schon etwas wohler
gepflegt. Wie gern hätte sie auch mich noch aufgenommen, wo ich,
wie sie mir immer wieder versicherte, ihre 2. Mutter gewesen bin, wenn
sie bei mir, ihrer zuerst verheirateten Schwester, immer ihre
Schulferien verleben konnte und auch vor der Schulzeit längere Zeit bei
mir war und besonders von meinem Carlmann, dem ersten, sehr verwöhnt
wurde. Es ging ja aber nicht, denn Evchen hatte ihre verheiratete
Tochter bei sich wohnen, deren Mann auch gerade aus englischer
Gefangenschaft zurückgekommen war und außerdem ihre 3 jüngeren noch
schulpflichtigen Jungen zu betreuen. Vor allem auch noch ihren lieben
Mann, als einzige von uns 6 Schwestern, die wir andern schon alle Witwen
waren und sie jetzt nach 7 Jahren dasselbe Los mit uns trägt. Mehrere
wunderschöne Tage durfte ich bei ihrer sorglichen Pflege verleben,
erfuhr dort auch die Anschriften meiner vier Kinder (drei verheiratet),
die auch alle die Heimat hatten verlassen müssen und nun mit ihren
Kindern in Baracken und Notwohnungen untergebracht waren. Die beiden
ältesten Töchter in Eckernförde und Pretz/Holst. nicht weit von
Ratzeburg, die ich dann auch bald besuchen konnte.
Alle hatten öfter
nach Elbing noch an mich geschrieben, doch die Russen vernichteten ja
unsere Briefe und so dachten die Kinder, dich sich bei Evchen erkundigt
hatten, ebenso wie sie selbst, dass ich mit Omachen unter den Russen
umgekommen bin. Auf der Rückreise blieb ich noch 1 Tag und Nacht in
Hamburg im Albertinenheim, wo ich die alte Frau Oberin Assuhr aus meiner
früheren Heimat Liebstadt noch ziemlich frisch antraf, auch Herr und
Frau. Prediger Neese, viele Jahre unser Prediger in Elbing. Die kannten
mich auch nicht wieder und Frau Neese umarmte mich unter Tränen:
"Tante Saretzki, so muss ich sie forsche Gutsbesitzerfrau, die uns
immer in den Ferien in ihrem schönen Heim so großartig bewirtet haben,
wiedersehen, oh, wie konnte Gott das zulassen?" Sie suchte gleich
eine schöne Strickjacke für mich vor und andere Kleinigkeiten und ihre
Schwester, jetzige Frau Oberin Krupat, die auch daran sich erinnerte,
wie wir in unserem schönen Galawagen mit den flotten Trakehner Braunen
davor, mit ihr an die geneigten Ebenen gefahren sind, wo die Schiffe über
die 5 Rollberge fuhren, ließ gleich in der Nähstube ein Spendenkleid
für mich passend machen und schenkte mir auch ein paar Schuhe, dir mir
leider nicht passten. Herr Neese gab mir noch 20 Mark von der
Bruderhilfe und auch Adressen von Ratzeburger Baptistengeschwistern,
nach denen ich mich dort bei einem Polizisten vergeblich erkundigt
hatte, da er von dieser Sekte noch nie gehörte hatte.
Von dem jungen
Prediger Hemmen, der auch im Albertinenheim wohnte und mich am anderen
Morgen zur Bahn brachte, hörte ich zu meiner großen Freude, dass er
jeden Donnerstagabend den wenigen Ratzeburger Geschwistern im
kirchlichen Gemeindesaal in einer Bibelstunde dient und auch im Lager
die Flüchtlingsgeschwister besucht, ebenso die in Mölln und den
umliegenden Dörfern. Da freute ich mich nun schon auf den Donnerstag
und erzählte meiner Schwester, mit der ich durch das Singen unserer
Lieder bekannt geworden war, gleich von unseren Versammlungen und wir
gingen rechtzeitig zu dem bekannten Saal, wo wir schon von ca. 20
Geschwistern, fast alle Flüchtlinge, herzlich begrüßt wurden. Gut
ebenso viel Fremde waren auch da und wir beide hatten aus dem Lager auch
noch einige mitgenommen und alle lauschten wir hungrig der
lang entbehrten Verkündigung des Wortes Gottes und sangen bewegten
Herzens gemeinsam die lieben, trauten Zionslieder.
Prediger Hemmen
besuchte uns dann auch im Lager, brachte uns Bibeln und auch öfter
andere nötige Sachen: Leibwäsche, Geschirr usw. Mir sogar einmal mit
Schw. Frida zusammen, die später seine Frau wurde, einen Hut und
Mantel. Sie bemitleideten mich, das ich ein so unwürdiges Unterkommen
dort habe und ich kam mir schon wunder wie reich vor, wurde von meinen
Stubengenossen fast beneidet. Von den dort schon länger wohnenden
Familien Voß und Tatzig, mit denen ich heute nach 7 Jahren noch im
lieben Briefwechsel stehe, wurde ich öfter zu Mittag eingeladen. Ich
beschäftigte mich viel mit Tatzigs Kindern, beaufsichtigte sie und
führte sie spazieren, wobei wir dann auch schön sangen und spielten
und sie hatten die Oma recht lieb, ich keine Not mehr, mit meiner Karte
auszukommen. Bei Herrn und Frau Voß, die nicht weit vom Lager wohnten,
wurde ich eigentlich gleich zuerst Stopf- und Flickoma und der kleine
herzliebe Bub Uwe besuchte mich oft im Lager und hielt meistens ein
Sträußchen oder Päckchen in der Hand auf dem Rücken und fragte mit
seinen großen lachenden Braunaugen: "Oma, was hab ich dir wohl
mitgebracht?" Wir haben dann zusammen immer Sonntagsschullieder
gesungen und damit die anderen Stubengenossen erfreut, die sie auch
lernten und mitsangen.
Herr Hemmen, der nun auch in Ratzeburg sein
möbliertes Zimmer bekommen hatte und uns auch mit Herrn Voß
abwechselnd nun Sonntagsdienste machte, hatte durch seine fleißigen
Haus- und Lagerbesuche auch auf den umliegenden Dörfern schon eine ganz
nette Schar Flüchtlingsgeschwister gesammelt und es wurde der große
Aulasaal der Schule für unsere sonntäglichen Versammlungen,
Sonntagsschule, wöchentlichen Bibelstunden und Gesangstunden gemietet.
Herr Tatzig, der schon eine größere Tischlereiwerkstatt hatte,
stiftete das Rednerpult und bequeme Stühle. Er war immer der erste, der
mit 3 oder 5 Brüdern den 1. Gottesdienst im Walde vor 2 Jahren
angefangen hatte und wurde nun der noch junge Älteste unserer nicht mehr
kleinen Flüchtlingsgemeinde. Der erste Winter 1946/47 fing schon im
November mit starkem Frost und viel Schnee an. Die harten Holsteiner,
die bestimmt einen Kopf von Holz und ein Herz von Stein hatten,
schimpften wieder auf die Flüchtlinge, die den strengen Winter aus dem
Osten mitgebracht hätten. Wir aber spürten es ja in den ganz
ungeheizten großen Sälen am meisten, denn die Fenster und Außenwände
waren ganz vereist. Nachts befror uns die Decke vom Hauch und die Füße
und Beine wurden überhaupt nicht warm.
Ich bekam von 2 blinden
Schwestern noch eine dicke Steppdecke zum Überlegen auf meine dünne
und doch hatte ich den ganzen Winter mit einem Blasenleiden zu kämpfen,
das sich zum Frühjahr Gott sei Dank wieder besserte. Ich hatte ja nun
schon Familie Voß ganz in der Nähe, wo ich mich jederzeit außen- und
innwendig aufwärmen konnte. Wurde immer mit viel Liebe und Herzlichkeit
aufgenommen und Mütterlein und Oma genannt, was mir so sehr wohlgetan
hat und ich noch immer bete, dass Gott ihnen diese Liebe an mir Ärmsten
erwiesen, tausendfach vergelten wolle. Zu unserem jungen Prediger,
dessen Flickoma ich auch war, wurde ich jeden zweiten Montag dazu
eingeladen und er hatte immer etwas an Vorrat von seinen Amerikapaketen.
Ich musste dann zuerst auf dem kleinen Ofen in seinem Zimmer ein
feudales Mittagessen kochen oder Puffer backen, wozu er die Kartoffeln
schälte und dann schwelgten wir und vom Arbeiten wurde nicht viel,
höchstens wenn Herr Hemmen mir etwas Schönes vorlas. Urgemütlich war
es, ich seine Oma und er mein lieber Enkel, der mich so liebevoll und
ritterlich umsorgte, dass ich mich die ganze Woche schon immer auf das
Bei-ihm-sein freute und er beteuerte, wenn ich ihm immer seine Sachen in
Ordnung halte, wird er gar nicht ans Heiraten denken.
Na es kam ja denn
doch bald anders und ich bekam aber doch die Flick- und Stopfsachen noch
ins Altersheim Schrangenstr. 3 gebracht, wo er mich öfter mit seiner
jungen, stattlichen Frau besuchte und uns 4 Frauen, die zusammen ein
Zimmer bewohnten, jedes mal eine kurze Andacht hielt. Ja, ich kam durch
Fürsprache aus dem Lager in ein zur Kirche gehörendes Altersheim,
welches früher eine Herberge für durchreisende Handwerksburschen
gewesen war und dem man es trotz der Umwandlung noch sehr anmerkte,
besonders an den entsetzlichen Flöhen, die in den Dielenritzen saßen
und nachts über uns herfielen. Na, ich ging ihnen ordentlich ans Leben
mit Schrubber und Lisol. Das Essen war anfangs einigermaßen sättigend,
wurde aber nachher, als der Hausvater dem Vorstand des Heims immer den
besten Teil der gelieferten Lebensmittel hinschleppte, wie wir abends
durchs Fenster beobachten konnten und auch seine Maitresse mit 2 Kindern
damit versorgte, wurde es schlechter wie im Lager.
Ich war ja nun allein
nicht mehr darauf angewiesen und konnte mir durch Strickarbeit allerlei
zusätzlich verdienen. Brachte auch meistens meinem alten Opa Kantowski,
den ich regelmäßig im Krankenhaus besuchte, immer etwas Gutes zum
Essen mit. Er war schon viel wohler und ganz aufgeräumt geworden und
empfing mich immer mit Freuden. An einem Sonntag bat er mich mit ihm auf
dem langen Korridor noch etwas hin- und herzugehen und erzählte mir,
dass er jetzt wieder seine Angestelltenversicherung, etwas über 300
Mark monatlich, bekommt und auch eine schöne Nachzahlung schon erhalten
hat. Darauf hat ihn seine Schwägerin, des inzwischen verstorbenen
Bruders Frau, die in Bergedorf-Hamburg ein Gartengrundstück hat,
angeboten, zu ihr zu kommen. Er weiß aber, dass seine Schwägerin
geizig und hartherzig ist und möchte nicht zu ihr.
Und dann ziemlich
stockend und verschämt meinte er, ob wir beide uns nicht zusammentun
könnten, nicht so wie in der Polenzeit, wo ich ihm große
Barmherzigkeit erwiesen habe, sondern er möchte mich heiraten und mein
Versorger sein, mir doch etwas Dankbarkeit beweisen. Da war ich dann
doch sprachlos. Opa, die Hühner lachen uns doch aus, sie 80 Jahre und
ich auch schon 70! Nein, was sollten meine Kinder dazu sagen und die
Großkinder? Er meinte, so etwas ist schon alles vorgekommen, dass der
Großvater die Großmutter nahm, er hatte ja keine Kinder. Na, ich ging
viele Wochen nicht mehr ins Krankenhaus, hörte aber dann, dass seine
Nichte ihn nach Bergedorf geholt hat. Dieselbe schickte mir später 20
Mk Reisegeld, trotzdem es von Ratzeburg nur 5 Mk kostete bis Hamburg, wo
ich dann auch gleichzeitig meine Schwester besuchen konnte. Opa freute
sich wie ein Kind und er war ja auch schon kindisch, darum konnte ich
ihm auch nichts übel nehmen. Bald nach meinem Besuch ist er dann
plötzlich gestorben.
In dem ollen Altersheim fühlte ich mich gar nicht
wohl, weil die eine Zimmergenossin so zänkisch und neidisch war und es
traf mich denn auch nicht zu hart, wie der Herr Superintendent, der
berühmte Vorstand mir eröffnete, dass ich als Baptistin eigentlich gar
nicht in dies kirchliche Heim gehöre und ich soll nur unseren Prediger
bitten, dass er mir eine andere Unterkunft besorge, ich errege auch
Unzufriedenheit und Neid, weil ich öfter Sachen von der Bruderhilfe
durch die Gemeinde bekomme, wo die Kirche ihre vielen Glieder nicht so
beschenken kann. Den Herrn von der Fürsorge, die einmal im Heim
nachfragen kamen in unser Zimmer, wie es uns geht und was wir außer
Mittag- und Abendbrot noch bekommen, hatte ich der Wahrheit gemäß
gesagt, dass wir 4 Pfd. Brot, 1/4 Pfd. Käse und 20 gr. Butter pro Woche, 3/4 Pfd. Marmelade und 5 Mk Taschengeld den
Monat, letzteres aber schon 3 Monate gar nicht bekommen hatten. Da waren
sie ganz empört und sagten, es wird von jetzt an öfter revidiert
werden. Ich wurde danach sehr schlecht von den bösen Hauseltern
behandelt und in allem zurückgesetzt, aber die anderen dankten es mir,
dass sie nun 100 gr. Butter die Woche bekamen und auch noch etwas Zucker
und Kunsthonig und regelmäßig 6 Mk Taschengeld pro Monat. Ich litt
keine Not, hatte ja meine treuen Freunde, die mir immer beistanden und
sich auch bemühten, mich anders unterzubringen.
Mir wurde dann
auch ein kleines Durchgangszimmer bei Frau Moll, ganz in der Nähe von
Tatzigs, angewiesen und ich war dort mehr zuhause, als in meinem
Stübchen. - Meine beiden verheirateten Töchter habe ich von Ratzeburg
aus auch noch besuchen können und mich an den größeren und besonders
an den kleinen Großkindern recht erfreuen können. Bei Hete, die noch
immer in derselben Wanzenbaracke wohnen muss, war ich 14 Tage und
verwöhnte das kleine Katharinchen, das auch erst dort geboren worden
ist in Pretz.
Von da fuhr ich noch nach Eutin zum Treffen der Elbinger
und Marienburger Gemeindeflüchtlinge, das mein Schwager, Prediger Hugo
Kellotat, und Herrn Renters leiteten. Ach, war das ein Wiedersehen und
herzinniges Begrüßen mit den lieben bekannten Geschwistern. Wir lagen
uns in den Armen und weinten miteinander und das Erzählen wollte kein
Ende nehmen. Bei einer gemeinsamen Versammlung forderte mein Schwager
mich auf, von unseres teuren, allgeliebten Muttchens Heimgang und
Begräbnis zu erzählen. Ich konnte es nur unter Tränen und viele
weinten mit mir. Am Erhebendsten war zum Schluss die gemeinsame
Abendmahlsfeier mit den vielen schon tot geglaubten Geschwistern.
"Oh, wie stärkt in Freud und Leid der Gemeinschaft Seligkeit." Am
andern Tag machten wir noch alle zusammen einen ziemlich weiten
Spaziergang mit Heimatgesängen verkürzt in die herrlich von Seen und
Wald durchzogene Umgebung Eutins bis zu einem auf ziemlicher Höhe
terrassenartig angelegten Erholungsheim, wo wir alle mit belegten
Brötchen und Kakao bewirtet wurden. Das war wieder mal ein Labsal nach
der großen Trübsal.
Überhaupt die Bewirtung in den großen
Bahnhofsrestaurants für alle Teilnehmer des Treffens war ganz
großartig feudal. Und diese Gemeinschaft bei der Mittagstafel. Ich saß
z. B. einmal zwischen 2 ganz großen, sehr feinen Herren Direktoren,
Professoren, was weiß ich, und sie unterhielten sich so lieb mit mir,
fragten, wie ich nur die schreckliche Polenzeit habe überstehen
können, ich armes, schwaches, altes Weiblein, legten mir immer wieder
von dem prächtigen Gemüse und Fleisch auf, bis ich sagte: "Nun
kann ich aber wirklich nicht mehr" und fragte, wer das denn alles
bezahle. Antwort: der liebe Gott durch die Bruderhilfe. Ja, den Segen
erfuhr ich ja buchstäblich nun, denn gekleidet und genährt wurde ich,
schlief auch die beiden Nächte in einem sauberen schönen Bett und
bekam noch das Reisegeld, alles durch die Bruderhilfe.
Auf der
Rückreise konnte ich dann noch meine beiden verheirateten Töchter Emmy
Linhuber in Eckernförde und Hete Frentzel-Beyme in Pretz besuchen, zum
letzten Mal mich noch an den Enkelkindern erfreuen und von allen
Abschied nehmen, weil mein Bleiben in Ratzeburg nun bald zu Ende ging.
Ob wir uns auf Erden noch wiedersehen? Gott allein weiß es und ich
will, wie ich es meinem geliebten Mann beim Sterben versprochen, sie
alle heimbeten. Meine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel. Alle wollen wir
uns treffen und vereint werden im großen, freien, schönen Vaterhaus!
Um unseren teuren Erlöser zu preisen für alle seine Wunderwege mit
uns, auch für die dunkelsten, denn gerade da hat uns seine große
Barmherzigkeit und Liebe, seine Treue und Gnade geleuchtet auf dem
dunklen Pfad, dass wir immer das herrliche Ziel, unsere ewige Heimat im
Auge behielten und ihr auch durch Gottes Gnade ein Stück näher
gerückt sind. "Preis seiner Liebesmacht, die uns erlöst!"
Oktober
1948 im Altersheim Ratzeburg, Schrangenstr. 3
Auch hier ist mein
Bleiben nicht mehr länger, weil ich die Betrügereien unseres gottlosen
Hausvaters und seiner stets schimpfenden Frau aufgedeckt hatte, die der
Vorsteher des Heims beschönigte, weil er auch seinen Teil davon
abbekam, wurde ich aus dem Heim verwiesen. Besonders betonte der Herr
Superintendent, dass ich als Baptistin keinen Anspruch auf dies
kirchliche Heim habe und so musste ich das mir angewiesene
Durchgangszimmer Gr. Wallstr. 13 bei Fr. Moll beziehen und versuchen mit
30 Mk Fürsorgeunterstützung auszukommen. Herr und Frau Tatzig nahmen
sich meiner an. Ich konnte mir, solange ich gesund war, durch das Warten
der kleinen Kinder und anderen häuslichen Arbeiten das Mittagessen
verdienen, auch Brennholz für meinen kleinen Ofen aus ihrer Tischlerei.
Ein Bettgestelle, kleinen Schrank und Waschtisch bekam ich auch von
Geschwistern und 1 Tisch und drei Stühle fand ich im Zimmer. Ich wäre
ganz zufrieden gewesen, wenn nicht die 4 Kinder, deren früheres
Kinderzimmer ich nun bewohnte, fortwährend hin- und hergelaufen wären
und es nicht immer weiter als ihr eigenes Spielzimmer betrachtet
hätten. Keinen Bissen konnte ich in den Mund stecken, wo sie nicht
dabei standen und das Toben und Zanken wurde mir doch zu viel. Da die
Mutter es auch von mir verlangte, dass ich in ihrer vierwöchigen
Krankheit den ganzen Haushalt besorgte und alles sauber hielt, wurde es
mir doch mit meinen 71 Jahren zu schwer und ich wurde selbst krank und
elend mit großen Ekzemen an den Schienbeinen, die nicht heilen wollten,
ins Krankenhaus überwiesen.
Der Arzt sagte, dass es von
Überanstrengung der Beine gekommen ist. In den 4 Wochen meines
Aufenthaltes im Krankenhaus erholte ich mich körperlich und seelisch
und meine Beinwunden heilten durch die Ruhe und sachgemäße Behandlung.
Sonntäglich, auch oft in der Woche bekam ich Besuch von lieben
Geschwistern, die mir meist auch kleine Erfrischungen mitbrachten, so
war das eine schöne, ruhige Erholungszeit für mich, die aber mit
meiner Heilung zu Ende ging. Mein Schwager Kelletat hatte mir inzwischen
die Adresse vom Pilgerheim Weltersbach geschickt und ich hatte dem
Leiter dort meine Lage geschildert und um Aufnahme bzw. mal erst zur
Vornotierung gebeten. Wie war ich überrascht, als ich nach 4 Wochen
schon den Bescheid bekam, dass ich evtl. schon am 1. April dorthin
übersiedeln kann, wenn die Kostenfrage durch die Fürsorge gelöst
wird. Mein treuer Vater im Himmel, dessen armer Sperling ich nun einmal
bin, sorgt doch so gnädig für mich, indem er alle Herzen lenkt und
alle Wege ebnet, wo ich keinen Ausweg mehr finde. Auch die Geschwister
hier, die mir fast alle Liebe erzeigen, freuen sich mit mir, dass ich
nun noch einmal eine Heimat finden soll, wo ich nicht mehr über meine
Kräfte arbeiten brauche. Der Arzt stellte mir gleich ein Attest aus,
dass ich mit meinen 71 Jahren mit dem kranken, geschwächten Körper der
Aufnahme in einem Alterspflegeheim dringend bedarf und nach dessen Einsendung
bekam ich vom Leiter des Pilgerheims den Bescheid, dass mit der
Fürsorge alle geregelt ist und ich zu Ostern schon zuziehen kann.
Das
war nun wieder Gnade und Barmherzigkeit meines Gottes über Bitten und
Verstehen, denn ich bin die Letzte gewesen aus anderen Bezirken, der die
Fürsorge Leichlingen die Unterhaltskosten bewilligte. Ratzeburg gab mir
keinen Zuschuss für Heizung oder sonst zu einer Anschaffung. Da musste
ich sehen mit 30 Mk monatlich auszukommen. Hätten sich die dortigen
Geschwister nicht meiner angenommen wie Tatzigs, Voss, Achilles, Anhalt,
Asts und unser lieber Prediger Boro mit seiner herzigen Frau, so wäre
ich wohl nicht mehr. Letzterer erzählte mir noch viel vom Pilgerheim,
das er kannte und schrieb mir den genauen Reiseplan auf, gab mir auch
Zuschuss zum Reisegeld und verabschiedete mich Ostern bei der
Abendmahlfeier nach der Taufe von 17 neu hinzugekommenen Erlösten so
herzlich. Mir wurde der Abschied doch recht schwer, war ich doch in den
drei Jahren meines Dortseins aufs herzlichste mit den lieben
Geschwistern, die fast alle durch dasselbe Leid gegangen, verbunden.
Tatzigs
4 Kinder und auch die 4 von Fr. Moll, bei der ich 1/2 Jahr gewohnt
hatte, begleiteten mich zum Bus, der mich nach Hamburg brachte zu meiner
jüngsten Schwester und Schwager, wo ich mich noch eine Woche aufhielt,
um dann am 25.4. die weite Reise bis ins Rheinland anzutreten. Die
letzte Nacht logierte ich noch im Albertinenheim und wurde früh, gleich
nach 5 Uhr von Herrn Prediger Neese, der mir auch die Fahrkarte
besorgte, in den D-Zug Hamburg-Köln gebracht. Nach 12 Stunden Fahrt kam
ich ziemlich müde bei Regenwetter hier in Friedrichshöh mit dem Bus
an, wo mich Herr Kaschari, der nun inzwischen schon heimgegangen ist,
abholte. Unser Heimleiter begrüßte mich auch schon auf halbem Wege und
seine Frau und Schwester Helene führten mich in mein schönes, großes,
nett eingerichtetes Zimmer, wo ich noch von 2 Mitbewohnerinnen aufs
Herzlichste begrüßt wurde. Auf meinem Nachttischchen standen zum
Empfang ein blühender Topf mit Willkommengruß von der Heimleitung. Wie
ich das für mich schon bereitete, schneeige Bett sah, ein Anblick, den
ich 4 Jahre entbehrt hatte und dann noch die weiß gedeckte, mit
Blumen geschmückte Abendbrottafel im großen Esssaal, die freundlichen
Gesichter und liebenden Hände, die sich mir alle zur Begrüßung
entgegenstreckten, die schöne gemeinsame Abendandacht, war ich ganz
überwältigt und Dankesfreudentränen ließen sich nicht mehr
zurückhalten.
Anderntags erging ich mich in der nächsten Umgebung des
herrlich gelegenen Heims. Ein stilles Tal in blühenden Gärten, sauber
gehaltenen, gepflegten Anlagen, drei Teichen, die der munter
plätschernde Weltersbach immer mit frischem, klarem Wasser versorgt. In
einem sah ich 4 größere Goldfische dunkelrot. Nusssträucher und
wieder hellleuchtendes Grün umrahmten die Teiche. Blühender Flieder
und andere wunderschöne Ziersträucher grenzten die sauberen Wege ein,
die hinauf bis zum herrlichen Buchendom führen, wo man's wirklich
spürt, hier ist nichts anders denn Gottes Haus, hier ist die Pforte des
Himmels. So habe ich's empfunden. Wie ich dann noch von den nahem
Waldwegen Jesus-Lieder herüberschallen höre von gleichgesinnten,
lieben Mitgliedern, denen ich mich dann anschloss, 70 - 80 Insassen,
sind wir hier in 2 größeren und 3 kleinen Häusern wohnend. Fast alle
über 70, einige auch über 80 Jahre alt, alle verwandt in dem
Versöhnungsblut unseres Heilandes, ihn liebend, ihm folgend, ihn
erwartend. Eine kleine, hübsche Kapelle haben wir, wo, weil ganz nahe,
auch die Alten, Gebrechlichen noch zum Gottesdienst hinkönnen, den
meistens unser lieber, allverehrter und geliebter fast 80jähriger Herr
Jäger noch leitet. Im Sommer haben wir auch sehr abwechslungsreichen
Besuch durch Jugend- und Kinderfreizeiten, Frauenvereinen und
Gesangvereinen, die uns durch herrlichen Gesang erfreuen und durch
fröhliches Spiel. Auch dienen uns dann öfter auswärtige Prediger.
Alle Tage ist ja aber auch nicht Sonnenschein. Wenn man zu Dreien im
Zimmer wohnt, ein jegliches nach seiner Art, so muss man sich doch immer
hindurchfühlen und anpassen, um harmonisch miteinander leben zu
können, aber es ist doch so sehr viel schöner und besser, als das
Leben im Lager mit 8 - 9 in einem Raum und wir sind doch alles mehr
gleichgesinnte Pilger zur Heimat hier auf Endstation angelangt zum
Ausreifen für die Herrlichkeit. Mehrmals bin ich schon umgezogen und
wohne jetzt im schönsten Zimmer des Hauses hier mit einer fast
gleichaltrigen Zimmerschwester, auch aus meiner Heimat Elbing, deren
gelähmte, ältere Schwester ich pflegen und betreuen half, bis ich ihr
am 15.9.1951, früh 3 Uhr die müden Augen zum letzten Schlummer
zudrückte. Frau Marta Meyer lag auch schwer krank und ich übernahm nun
ganz selbstverständlich auch ihre Pflege 6 Wochen lang. Fast jede
Nacht, 3 - 4 mal raus und da ich am Tage auch nicht ruhen konnte, wurde
es doch zu viel für mein ohnehin schon krankes Herz.
Der Arzt sagte
nach der Untersuchung: "Wie haben sie sich nur so abwirtschaften
können! Nach den verordneten Mitteln und der 10-tägigen Liegekur
erholte ich mich aber wieder recht gut und wir beide Martas, die große
und die kleine, haben viele schöne Tage, Wochen, jetzt auch schon über
2 1/2 Jahre friedlich miteinander verlebt, Freud und Leid, Krankheit und
Betreuung miteinander geteilt. Trotzdem wir ganz verschiedenen
Charakters sind, bemühen wir uns immer, einander zu verstehen und
gegenseitig unsere Schwächen zu tragen und uns weiter zu helfen dem
Ziele zu! Viele unserer müden Pilger hier haben wir schon auf ihrem
letzten Gang zu unserem so schön terrassenartig angelegten, wohl
gepflegten Waldfriedhof begleitet. Wann kommt an uns die Reihe?
Ich habe
mich, nach dem die Herzschwäche durch die jetzt so schnell
fortschreitende Verkalkung der Herzschlagader stark zugenommen hat und
ich durch den hohen Blutdruck (250) sehr zu leiden habe, so dass ich
mich an besonders schweren Tagen ganz sterbenselend fühle und die
Nächte öfter sitzend verbringe bei großer Atemnot, schon ganz mit dem
Gedanken vertraut gemacht, dass ich eine der Ersten sein werde, an die
Gottes Heimruf ergeht. Ich freue mich darauf und wenn dann wieder
leichtere Tage kommen, wo ich noch in mehreren Stationen bis zum
Friedhof, meinem Heiligtum, meinem Gebetskämmerlein, raufpilgern kann,
dann singe ich dort meinem großen Erbarmer meine Dank- und Loblieder,
meistens auch die schönen Heimatlieder. Oh, wie gut ist's, doch des
allmächtigen, allweisen Vaters Kind zu sein und still in seiner Liebe
zu ruhen, in seine Gnade sich ganz einzuhüllen und so mit Freuden auf
seinen Heimruf zu warten. Da bin ich hier schon selig und was wird das
erst für Wonne sein zu erwachen in lichter Herrlichkeit nach seinem
Bilde!
Meine beiden anderen Kinder Erich und Christel haben mich
hier im schönen Pilgerheim schon öfter besucht zu meiner großen
Freude. Sie sind mir ja nun die Nächsten, der Sohn in Marsdorf b. Köln
und meine jüngste Tochter in Neuß/Rh. Also sorgt Gott auch darin für
mich, dass ich nicht von allen meinen Liebsten verlassen bin. Meine älteste Schwester Luise Kommoß, Berlin-Steglitz und mein Bruder Emil
Thimm, Ostzone, sowie auch meinen jüngsten Bruder Otto und meine
Schwester Marie Meyhack habe und werde ich auf Erden wohl nicht mehr
wiedersehen, aber in geistiger und brieflicher Verbindung stehe ich mit meinen 7 noch lebenden Geschwistern. Auch mit recht vielen lieben
Freunden aus der Notzeit. Oh, ich bin noch so reich als arme
Fürsorgeempfängerin mit meinem kleinen Taschengeld und reicher kann
ich nirgends werden, als ich schon in Jesu bin.
Bildnachweis:
Elbinger
Nachrichten, Uelzen Weihnachten 1967 Krüger, Else: Elbing 1945/46 -
Ein Bericht aus schwerer Zeit, Trusoverlag, Münster/Westf. 1995. Stadtplan
Elbing/Westpr. 1945, Trusoverlag, Münster/Westf. 1997 Templin,
Gerhard
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