Bericht von Helmut Mietz, Bürgermeister von Kahlberg bis 1945, über die Ereignisse auf der Frischen Nehrung, Flucht, Schiffstransport über Hela nach Bornholm mit anschließender Ausweisung nach Kolberg (Pommern), Rückkehr nach Kahlberg und seine Verhaftung durch die Russen. Ergänzung des Berichts durch seine Tochter bis zum Juli 1946.

Januar 1945

Am Abend des 23. erreichte uns die letzte Nachricht von Elbing: Der Russe ist in der Stadt.



Ansichtskarte mit einer Landkarte der Frischen Nehrung (1940 gelaufen)

In der Nacht kamen die Flüchtlinge aus dem gegenüberliegenden Tolkemit über das Eis. Die ersten Tragödien begannen, als ein Eisbrecher der Firma Schichau durch die dicke Eisdecke des Frischen Haffes eine Fahrrinne brach, um noch mit einigen anderen Schiffen in die See zu gelangen. Über die Fahrrinne wurden schmale Bretter gelegt, über die immer eine Person gehen konnte. Alles andere blieb auf der anderen Seite liegen und stehen, dann die Stege durften nicht belastet werden.

Doch der Herrgott hatte ein Einsehen. Wenn es auch hart war, dass er so eine Kälte schickte, aber er baute doch damit eine Brücke über das Wasser. Ohne diese Brücke wären doch Millionen nicht mehr aus Ostpreußen gekommen, da dadurch, dass Elbing so schnell in die Hände der Russen gelangte, dieser Weg ins Reich vollständig gesperrt war. Diese Brücke wurde vielen das Grab und vielen der Weg ins Ungewisse.

Am 26. Januar wurde die Bevölkerung von Kahlberg-Liep mit Kriegsschiffen abgeholt. Die Abschiedsstunde hatte also schnell geschlagen. Die See war ruhig, als wäre sie mit der Einschiffung einverstanden und sie begann dann auch gleich am Vormittag. Aber auch noch am späten Nachmittag wurden Nachzügler zu den Schiffen gebracht, die sich bis dahin nicht entschließen konnten, die Heimat zu verlassen und es dann doch taten, da schon erste Nachrichten aus Tolkemit eintrafen, dass der Russe dort auch schon war. Die See war inzwischen unruhig geworden, als hätte sie die Geduld verloren immer noch mehr Leid und Abschiedsschmerz auf ihren Schultern zu tragen. Gegen Abend wurde dann losgemacht. Noch einmal standen sie alle an der Reling. Die alten Fischer mit den harten, zerfurchten Gesichtern, die etwas erzählen konnten vom Kampf mit den Stürmen und Wogen. Die alten Mütterchen, müde und voll Angst in die Zukunft blickend. Die Jugend, denen es etwas Neues war, auf Kriegsschiffen zu fahren. Sie alle standen und sahen hinüber zu ihrer Nehrung.




Der Leuchtturm von Kahlberg sandte keinen Gruß mehr über das Meer. Nur der dunkle Wald und die hellen Dünen grüßten herüber. Wie ein Streifen, immer schmaler werdend, verschwand die Nehrung ihren Blicken im Meer und immer standen sie noch und sahen und schauten. Wahrscheinlich sahen sie hinter die Dünen und hinter den Wald in ihr Dorf, das jetzt verlassen da lag und dass sie wohl nicht mehr sehen würden. Die Fischerboote trieben herrenlos auf dem Meer herum, denn es war ja niemand da, der sie noch einmal an Land brachte. Als wollten sie ihren Herren nachfahren, die doch ein Leben lang mit ihnen gefahren waren und sie jetzt einfach dem Meer überließen.

Inzwischen war es in dem still gewordenen Dorf nicht mehr so still. Zurückflutende Soldaten in aufgelösten Haufen streiften durch die verlassenen Häuser. Die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen kamen und machten Quartier und ich als zurückgebliebener Bürgermeister mit noch ca. 30 Personen hatten Mühe, etwas Ordnung zu halten. Die nächsten Tage nahm der Strom der Zurückflutenden bedenklich zu. Militär-Auffangstellen wurden eingerichtet. Der Kampf um Elbing war anscheinend im Gange, man hörte es. Kriegsschiffe schossen von See aus über die Nehrung in die Stadt hinein.

Die folgenden Wochen bis Anfang März zogen unaufhörlich die ostpreußischen Trecks über die Nehrung, in 5 Ketten: auf dem Eis des Haffes, die Dorfstraße, die Waldchaussee, einen Dünenweg, der noch gebaut wurde und am Strand entlang, zogen sie dahin. In den Gesichtern der Menschen saß der Abschiedsschmerz, aber noch mehr die ausgestandene Angst beim Überfahren des Haffes. Neben ihnen hatten die Geschosse der Ari (Artillerie) eingeschlagen, die von Frauenburg und Tolkemit die Trecks auf dem Eis beschoss. Das Eis wurde dadurch immer brüchiger und manch einer fand in dem Eisgrab den Tod oder, wenn er sich rettete, sah er sein letztes Hab und Gut, oft noch mit lieben Menschen in den Fluten versinken. Russische Tiefflieger jagten die Reihen der Wagen entlang und oft mussten die Wagen mit den angeschossenen Pferden stehen gelassen werden und es ging zu Fuß weiter.

Die Menschen wurden abgestumpft gegen das Leid der anderen und auch bald gegen ihres, denn es blieb ihnen nicht einmal Zeit, ihre Toten, die unterwegs durch Beschuss, Kälte und Entkräftung gestorben waren, zu beerdigen. Täglich fand man Tote an den Wegen und in den Häusern liegen. Es hieß immer: nur weiter, weiter, nur nicht den Anschluss verpassen. Wenn man einmal hinten blieb, fand man nicht mehr die, mit denen man diesen Weg zusammen gehen  wollte.

Von der N.S.V. waren an den Straßenkreuzungen, in Hotels und Schulen Verpflegungsstätten eingerichtet, die laufend Brot und Suppen verteilten. Die Wohnhäuser, Ställe, Fischräuchereien usw. waren jede Nacht gerammelt voll, denn jeder sehnte sich danach, die kalte Nacht wenigstens in einem Raum zu verbringen. Jeder wäre noch gerne einen Tag länger im Quartier geblieben, wenn er eines gefunden hätte, denn es war zu der Zeit noch verführerisch ruhig auf der Nehrung, aber die Polizei setzte jeden Tag wieder alle in Bewegung, denn Tausende und Abertausende kamen doch noch.

Ich als Bürgermeister hatte in diesen Tagen viel zu tun. Mit noch drei Kahlbergern übernahm ich die Leichenbestattung, denn wenn auch die Lebenden vorgingen, um die Toten musste sich auch gekümmert werden. Auf dem Friedhof von Kahlberg wurde ein großes Massengrab geschaufelt, da etwas anderes zu machen bei der Kälte gar nicht möglich war. Dort kamen sie alle herein, alt und jung, arm und reich, Zivilisten und Soldaten, 170 Personen. Später wurden Reihengräber gemacht. Über die Namen der Toten, die zu der Zeit beerdigt wurden, kann ich leider keine Angaben machen. Ich hatte die Namen, so weit ich sie erhalten konnte, mit noch anderen Personalien in einer Aufstellung festgehalten. Zu dieser erhielt ich in den letzten Tagen, die wir in der Heimat waren, noch eine Aufstellung eines Heerespfarrers über die Soldaten, die in Kahlberg von der Wehrmacht beerdigt wurden. Alle beiden Aufstellungen sind mir während der russischen Besatzungszeit abhanden gekommen.

Weiter musste ich die Bestände aus den Geschäften sicherstellen, um sie den Verpflegungsstellen zu übergeben, um somit eine gerechte Verteilung zu gewährleisten. Für die einheimische Bevölkerung musste auch gesorgt werden, denn die hatte sich schnell vermehrt. Die Schiffe, die die Bevölkerung abgeholt hatten, wurden in Neufahrwasser ausgeladen und dort wurden die Familien in Privatquartieren untergebracht. Jeder tat nun, was er für richtig hielt. Ein Teil fuhr per Schiff und Bahn nach Westen weiter. Ein Teil blieb noch da und ein Teil kehrte zu Fuß nach Hause zurück, so dass im April wieder 120 Personen im Dorf waren.

Ende Februar wurden in Kahlberg in die See noch zwei Seestege gebaut, da von Danzig bzw. Hela laufend Schiffe kamen, um die Flüchtlinge, verwundete Soldaten und Kranke abzutransportieren. Der Strand glich oft einem Schlachtfeld, wo alles zurückgelassen wurde, was einmal Menschen als ihr eigen betrachtet hatten.

Von Tolkemit schoss ab Ende Februar laufend die russische Ari zur Nehrung. Die Nehrung war gespickt voll von Wehrmacht sämtlicher Truppenteile. Dieselben begannen nun mit dem Bunkerbau im Wald. Die ehemaligen Adolf-Hitler-Straße, deren Gebäude z. T. schon alle getroffen waren, wurde restlos abgebrochen und das Holz zum Bunkerbau verwendet. Der Wald lichtete sich stark und es entstand eine gewaltige Bunkerstadt. Jeder Berg war gespickt voll mit großen, sehr stabilen Bunkern. Die Soldaten führten sich im Moment noch ganz wohl auf der Nehrung, die Schießerei war nach ihren Begriffen nicht zu wild, Verpflegung gab es genug. Nur ein anderer Teil ahnte aber auch, dass die Nehrung doch eine sogenannte Mausefalle war und für viele von ihnen das Grab werden würde und letzten Endes war jeder froh, wenn es hieß: Wir setzen uns über See nach Westen ab. Das war aber nicht bei vielen der Fall.

Anfang März hörten auch die Trecks auf, die Wehrmacht war kein wilder Haufen mehr, so dass es in dieser Beziehung ruhig war. Dadurch ließen sich auch ein Teil Kahlberger dazu verleiten, wieder nach Hause von Danzig zurück zu kommen. Der Ari-Beschuss und der nächtliche Besuch der "Nebelkrähe" (russ. Flugzeug) wurde in Kauf genommen, denn man war ja immer noch zu Hause. Zu essen gab's. ich hatte mein Lebensmittelgeschäft ausverkauft und holte Verpflegung von Stutthof. Dort war das Vieh aus der überschwemmten Niederung zusammengetrieben und es gab alles in Hülle und Fülle, was Wochen später in weite Ferne gerückt war.




Ostseebad Stutthof - Rathke's Seeweg (1929)

Wir hörten das Grollen der Geschosse bei den Kämpfen um Heiligenbeil, Königsberg und Danzig und saßen immer noch auf unserem Eiland. Auf demselben wurden Truppen hin und hergeschoben, denn der Kreis wurde immer enger.

In der Nacht vom 26. zum 27. April landete der Russe an zwei Stellen auf der Nehrung bei Neutief und Möwenhaken. Nun schoss die Ari fast schon den ganzen Tag und die "Nebelkrähe" kam die ganze Nacht. Noch einmal kamen Schiffe, um die Bevölkerung und verwundete Soldaten abzuholen.

Am 1. Mai stand der Russe vormittags bei Schmergrube. Nun ließ die Wehrmacht nicht mehr locker. Am Nachmittag ging ich mit ca. 80 Personen los. 20 Personen blieben in Kahlberg und haben den Einfall der Russen mitgemacht. Drei Frauen wurden wahrscheinlich durch Vergewaltigung getötet, da dieselben einen Tag später nur noch verscharrt aufgefunden wurden. Vier alte Personen werden seitdem vermisst. Ein großer Teil der Bevölkerung war von Danzig mit Zügen weggefahren, zum größten Teil nach Mecklenburg und Pommern gekommen, wo sie der Russe auch wieder erwischt hat. Die am 1. Mai Kahlberg verließen, wurden an der Weichsel noch verschifft und kamen über Hela nach Dänemark, Lübeck und Kiel. Meine Familie und ich, sowie einige andere Heimatgenossen wurden am 5. Mai abends in Nickelswalde/Weichsel mit Kampffähren nach Hela transportiert. Hier an der Weichsel stauten sich die Soldaten zu Tauenden und Abertausenden mit Wagen, Autos, Geschützen und sonstigem Zubehör. Es sah aus wie ein riesiges Schlachtfeld, auf dem die Kämpfer alles stehen und liegen gelassen hatten. Jeder wollte auf so eine Fähre und damit auf den Weg nach Westen. Der Russe war an diesem Tage schon über Kahlberg hinaus und die Kämpfe waren bei Pröbbernau in vollem Gange. Man hörte fernes Grollen und Detonationen. In Kahlberg hatte der Russe von Land aus und gleichzeitig vom Haff mit Booten angegriffen.

Am 6. Mai kam ich mit meinen wenigen Genossen aus der Heimat auf Hela an. Dort bot sich dasselbe Bild, Militär, wo man hinsah und trat und auch noch Zivilisten. Ein großer Teil von ihnen bemühte sich nicht, weiter zu fahren. Es wurde soviel geredet von untergegangenen Schiffen usw. Es war hier verhältnismäßig ruhig, außer einigen einzelnen Angriffen. Verpflegung gab es genug, da hier viele Verpflegungslager der Wehrmacht lagen. Um mit einem Schiff mitzukommen, gab es Bescheinigungen der Ortskommandantur für Alte und Kranke. Aber wie überall in diesen Tagen, konnte und wurde auch hier nicht mehr genau nach Vorschrift gehandelt. So kamen auch wir mit einem alten Frachter, der aus Königsberg stammte und der diese Tour zum ersten Mal fuhr, mit. Um 800 Personen waren auf demselben. Ein Teil lag im Laderaum und die übrigen auf Deck. Das Geleit bestand aus 7 Schiffen bzw. Fähren, die schwarz von Menschen waren. Die Fahrt an sich war ruhig. Nach 2 Tagen gerieten wir in Nebel, so dass ein Schiff vom anderen nichts mehr sah. Unser Frachter ankerte, da er jegliche Orientierung verloren hatte. Eine Nacht lagen wir auf dem Meer. Am Morgen des 9. Mai, wie der Nebel verschwand, lagen wir nicht weit von der Insel Bornholm/Dänemark. Wie wir im Hafen anlangten, wurde uns vom deutschen Hafenkommandanten mitgeteilt, dass in der vergangenen Nacht der Waffenstillstand vollzogen war.

Uns wurde freigestellt, ob wir die Weiterfahrt antreten oder dableiben wollten. Lange zu überlegen blieb uns nicht, denn am Horizont tauchten plötzlich kleine Punkte auf, die sich schnell näherten und bald im Hafen anlegten, als 6 russische Schnellboote. Unter den Leuten sah es aus, als sollte eine Panik ausbrechen, dass sich jedoch bald legte, da die Russen es vorerst nur auf das Militär abgesehen hatten.

Die Insel Bornholm wurde, wie uns von den Russen mitgeteilt wurde, mit Einverständnis der anderen Siegermächte von den Russen besetzt, um die Deutschen, die darauf waren, herunter zu transportieren. Es waren dieses nach Angaben 20 000 Soldaten und 4 000 Zivilisten. Die ersten Stunden kümmerte sich niemand um uns. Am zweiten Tag kamen wir vom Schiff in die Stadt Rönne. Die Dänen, die uns zuerst ziemlich ablehnend gegenüber standen, wurden um vieles freundlicher, als sie die Russen sahen.

Wir wurden in ein Massenlager gebracht und vom Dänischen Roten Kreuz betreut. Inzwischen hatte der Russe sämtliches Militär zusammengezogen und es ging an den Abtransport.

Bornholm verfügte über eine große Fischerflotte und auch über mehrere große Passagierschiffe, die, man weiß nicht wie sie es erfahren haben, kurz bevor der Russe kam, hinüber zum dänischen Mutterland gefahren waren. Dieselben mussten nun zurück kommen und den Transport der Deutschen nach Pommern übernehmen.

Nachdem das Militär abtransportiert war, kamen auch die Zivilisten dran. Verschiedene äußerten ganz heimlich den Wunsch dazubleiben, aber dazu bestand keine Möglichkeit. Am 13. 5. wurden wir auf einem großen Passagierschiff nach Kolberg in Pommern gebracht. Dann pfiff schon ein anderer Wind, wie wir dänischen Boden verlassen hatten. In Kolberg lag viel russisches Militär. Der Hafen und das Stadtgebiet waren ein Trümmerhaufen. Wir wurden in halbkaputte Häuser eingewiesen, die wir uns notdürftig zurecht machten. Aus anderen Häusern wurde noch Brauchbares zusammengeholt und es wurde etwas wohnlich gemacht. Hier hörte man schon von den wenigen Deutschen, die in der Stadt geblieben waren, vom Leben unter den Russen.

Dann mussten wir jeden Morgen antreten, 1 - 2 Stunden stehen, ehe man sich besonnen hatte, wo wir heute hin sollten. Meistens wurden Häuser ausgeräumt. Das bestand darin, dass wir die Wohnungen ganz leer machten, alles durch' s Treppenhaus von oben in den Flur warfen und von dort in den Keller. Eine andere Gruppe musste Keller ausräumen, die vollgestopft waren mit allem möglichen. Alles wurde vernichtet. Essbares haben wir uns noch herausgesucht, denn wir bekamen hin und wieder ein Stückchen Brot, sonst nichts. 5 Tage später kam der Befehl des Räumens. Es ging 2 km aus Kolberg in eine Siedlung, deren Häuser schön ganz waren, leider leer. Wieder ging es ans Zusammensuchen. Hier verlebten wir auch das Pfingstfest am 20./21.5. Arbeiten gingen wir in die Stadt. Auch dort war unseres Bleibens nicht lange, am 25./26.Mai kam die Parole: Alles geht nach Hause. Jeder konnte sich einen Passierschein ausstellen lassen, wo er hin wollte, aber wer wollte nicht nach Hause. Also hatten wir nun einen Weg von 360 km in die Heimat vor uns.

Wir kamen an ausgestorbenen Dörfern vorbei und an solchen, die noch z. T. von Deutschen bewohnt waren, die aber alle nur ängstlich herbei kamen und sogleich verschwanden, wenn sie eine Uniform in der Nähe auftauchen sahen. Zur Nacht wurde in leeren Häusern oder bei Deutschen Quartier gemacht. Kartoffeln gab es genug in den Mieten und Rhabarber wuchs überall. Das war das einzige, was der Russe gelassen hatte. Überfälle der Russen des Nachts und auch am Tage musste man sich gefallen lassen und auch, dass sie sich nahmen, was ihnen gerade gefiel. Man war nur froh, dass sie einen noch davon gehen ließen. Nach zwölftägigem Marsch langten wir in der Heimat an. Man sagte Heimat, aber war es noch die Heimat? Wo man hin sah waren Trümmer und Unrat und doch fühlten wir uns zu Hause.

Das erst Quartier, das wir auf der Nehrung machten, war Bodenwinkel, wo wir noch ca. 15 Personen aus Kahlberg antrafen, darunter war auch meine 70jährige Schwiegermutter, die den Einzug der Russen miterlebt hatte. Nach zweitägiger Rast begaben wir uns nach Kahlberg. Durch Ari-Beschuss und sinnlosem Niedermachen des Baumbestandes kam uns unser schöner Nehrungswald wie ein Steppenwald vor. Ein schmerzlicher Anblick war für uns, wie wir unsere Kirche in Pröbbernau sahen. Die Orgel und sonstiges Inventar lag draußen vor der Tür und die Kirche selbst diente als Kino. Auch an unseren Häusern in Liep war der Krieg nicht spurlos vorüber gegangen, doch wir waren froh, dass wir wieder in unseren vier Wänden waren.

Mit der Zeit fanden sich noch mehr Kahlberger ein, die den langen Weg von Pommern und sogar von Mecklenburg nicht gescheut hatten. Kahlberg selbst lag voll von russischem Militär. Esswaren fanden wir überhaupt nicht vor, es war sich jetzt jeder selbst der Nächste und jeder musste sehen, wo er etwas auftrieb. Um überhaupt etwas Essbares zu erhalten, habe ich bis zu meiner Verhaftung in der Bäckerei Stobbe, die von den Russen besetzt war, als Schroter gearbeitet und ich war glücklich, wenn ich abends mit einem oder zwei Pfund Mehl nach Hause gehen konnte. Einige Kahlberger Fischer fischten für das russische Militär und meine Tochter half dort selbst. Wie freuten wir uns dann, wenn für uns auch einmal ein Fisch abfiel. Die Fischerei war ja immer schon auf der Nehrung das tägliche Brot der Leute gewesen und es zeigte sich jetzt auch wieder, dass dieses schwere Brot so manch einen am Leben hielt.



Kahlberger Fischer bei der Arbeit




Fischer beim Reinigen der Aale

Die russischen Truppen waren kaserniert, nur des Nachts standen wir Ängste aus, wenn betrunkene Soldaten, von Danzig kommend, unsere Ortschaft unsicher machten. Wie mir später meine Familie mitteilte, gelang es so einer Horde des Nachts in unser Haus einzudringen. Schläge mit Gewehrkolben und andere Misshandlungen waren die Folge.

Ich möchte hier noch eine kurze Beschreibung des Ortsbildes von Kahlberg zu der Zeit einflechten. Insgesamt waren 26 Häuser und Hotels durch Aribeschuss und Feuer total vernichtet. Die gesamten Gebäude der ehemaligen Adolf-Hitler-Straße waren ein Trümmerhaufen. Die Siedlungen am Leuchtturm und Höhenweg waren ziemlich gut erhalten und wurden von der russischen Prominenz bewohnt. Aus der evangelischen Kapelle war ebenfalls die Orgel herausgerissen. Der Majolika-Christuskopf, der dem Altar hing, befand sich bis zur Vertreibung noch in unserem Besitz.

Am 6. Juli 1945 wurde ich auf meiner Arbeitsstelle verhaftet. Ich wurde auf der GPU-Zentrale (Hotel Kaiserhof) abgeliefert. 10 Tage verbrachte ich hier im Keller. Fast jede Nacht wurde ich zum Verhör geholt und mit russischer Vernehmungskunst verhört. Die Verhöre drehten sich meistens um die Partei und es wurde hierbei auch nicht mit Schlägen gespart. Meine Tochter wurde zu so einem Verhör auch einmal mit zugezogen. Nach 10 Tage wurde ich mit einem bewachten Boot nach Tolkemit gebracht. An diesem Tag sah ich unser Kahlberg zum letzten Mal. Von Tolkemit ging es weiter nach Elbing und dort über Pr. Eylau nach Königsberg, wo ich bis August 1948 im Gefangenenlager war.

Meine Tochter setzt jetzt den Bericht fort, wie es ihnen noch auf der Nehrung ergangen ist:

Von dem Verbleib meines Vaters wussten wir nichts und wir mussten uns mit dem Gedanken tragen, dass er eines Tages doch noch zurück kam und somit alles in Gottes Hand legen.

Am 15.12.1945 zog das russische Militär ab, da durch die neue Grenzziehung Kahlberg an Polen fiel. Beim Abzug wurde der ehemalige Kurhaus-Besitzer Müller mit Tochter mitgenommen, der Fuhrhalter Lange, der sich weigerte, wurde erschossen. Durch den Abzug der Russen wurde es etwas ruhiger in unserem Ort. Ein polnisches Kommando, das jetzt einzog, quartierte sich in der Volksschule ein. Trotzdem wir unser schönes Kahlberg so liebten, war es doch nicht mehr die Heimat, wie früher, die alt vertrauten Gesichter fehlten. In der Ungewissheit über die abwesenden Angehörigen gingen die Tag träge dahin. Mit der Zeit kamen immer mehr Polen, die von allem was jetzt noch zu gebrauchen war, Besitz ergriffen. Für die Arbeit unter den Polen wurden wir bezahlt, so dass wir dadurch schon mal etwas an Esswaren kaufen konnten. Außerdem waren im Wald gerade in diesem Jahr reichlich Pilze und Beeren und wir waren eifrige Sammler des Gutes, das der Herrgott für uns hatte wachsen lassen. Unter den Polen gab es auch Menschen, die menschlich dachten und uns hin und wieder etwas Gutes zukommen ließen.

Wir wurden daher auch schon von manchen Polen, die uns gut sein wollten, gewarnt, uns bereit zu halten, dann täglich konnte die Ausweisung kommen. Dieses geschah dann auch am 17. Juli 1946. Das Milizkommando stand vor der Tür und wir mussten in 10 Minuten unsere Sachen packen und das Haus verlassen. Es verblieben nur noch 2 Familien im Ort, die ein halbes Jahr später ausgewiesen wurden und in dieser Zeit noch den Polen für die Fischerei nützlich waren.

Noch einmal standen wir auf der Mole und sahen herüber zum Dorf, das bis dahin unsere Heimat gewesen war. Noch einmal fuhren wir über das Frische Haff nach Tolkemit und von dort mit einer inzwischen notdürftig fertig gestellten Haffuferbahn nach Elbing. Am Getreide-Silo wurden wir ausgeladen und in Schleppkähnen ging es weiter nach Danzig. Stettin war die letzte große Wartestation, wo das Gepäck nochmals, wie schon oft, auf das Genaueste "kontrolliert" wurde. Von dort ging die Fahrt dann in den Westen und mit Heimatgenossen, mit denen wir so lange Freud und Leid geteilt hatten, kamen wir nach Eitorf.

Die Ansichtskarten sind aus der Sammlung von Christa Mühleisen.