Bericht
von Helmut Mietz, Bürgermeister von Kahlberg bis 1945, über die
Ereignisse auf der Frischen Nehrung, Flucht, Schiffstransport über Hela
nach Bornholm mit anschließender Ausweisung nach Kolberg (Pommern),
Rückkehr nach Kahlberg und seine Verhaftung durch die Russen.
Ergänzung des Berichts durch seine Tochter bis zum Juli 1946.
Januar
1945
Am Abend des 23. erreichte uns die letzte Nachricht von
Elbing: Der Russe ist in der Stadt.
Ansichtskarte
mit einer Landkarte der Frischen Nehrung (1940 gelaufen)
In der Nacht kamen die
Flüchtlinge aus dem gegenüberliegenden Tolkemit über das Eis. Die
ersten Tragödien begannen, als ein Eisbrecher der Firma Schichau durch
die dicke Eisdecke des Frischen Haffes eine Fahrrinne brach, um noch mit
einigen anderen Schiffen in die See zu gelangen. Über die Fahrrinne
wurden schmale Bretter gelegt, über die immer eine Person gehen konnte.
Alles andere blieb auf der anderen Seite liegen und stehen, dann die
Stege durften nicht belastet werden.
Doch der Herrgott hatte ein
Einsehen. Wenn es auch hart war, dass er so eine Kälte schickte, aber
er baute doch damit eine Brücke über das Wasser. Ohne diese Brücke
wären doch Millionen nicht mehr aus Ostpreußen gekommen, da dadurch,
dass Elbing so schnell in die Hände der Russen gelangte, dieser Weg ins
Reich vollständig gesperrt war. Diese Brücke wurde vielen das Grab und
vielen der Weg ins Ungewisse.
Am 26. Januar wurde die
Bevölkerung von Kahlberg-Liep mit Kriegsschiffen abgeholt. Die
Abschiedsstunde hatte also schnell geschlagen. Die See war ruhig, als
wäre sie mit der Einschiffung einverstanden und sie begann dann auch
gleich am Vormittag. Aber auch noch am späten Nachmittag wurden
Nachzügler zu den Schiffen gebracht, die sich bis dahin nicht
entschließen konnten, die Heimat zu verlassen und es dann doch taten,
da schon erste Nachrichten aus Tolkemit eintrafen, dass der Russe dort
auch schon war. Die See war inzwischen unruhig geworden, als hätte sie
die Geduld verloren immer noch mehr Leid und Abschiedsschmerz auf ihren
Schultern zu tragen. Gegen Abend wurde dann losgemacht. Noch einmal
standen sie alle an der Reling. Die alten Fischer mit den harten,
zerfurchten Gesichtern, die etwas erzählen konnten vom Kampf mit den
Stürmen und Wogen. Die alten Mütterchen, müde und voll Angst in die
Zukunft blickend. Die Jugend, denen es etwas Neues war, auf
Kriegsschiffen zu fahren. Sie alle standen und sahen hinüber zu ihrer
Nehrung.
Der Leuchtturm von Kahlberg sandte keinen Gruß mehr über das
Meer. Nur der dunkle Wald und die hellen Dünen grüßten herüber. Wie
ein Streifen, immer schmaler werdend, verschwand die Nehrung ihren
Blicken im Meer und immer standen sie noch und sahen und schauten.
Wahrscheinlich sahen sie hinter die Dünen und hinter den Wald in ihr
Dorf, das jetzt verlassen da lag und dass sie wohl nicht mehr sehen
würden. Die Fischerboote trieben herrenlos auf dem Meer herum, denn es
war ja niemand da, der sie noch einmal an Land brachte. Als wollten sie
ihren Herren nachfahren, die doch ein Leben lang mit ihnen gefahren
waren und sie jetzt einfach dem Meer überließen.
Inzwischen war
es in dem still gewordenen Dorf nicht mehr so still. Zurückflutende
Soldaten in aufgelösten Haufen streiften durch die verlassenen Häuser.
Die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen kamen und machten Quartier und
ich als zurückgebliebener Bürgermeister mit noch ca. 30 Personen
hatten Mühe, etwas Ordnung zu halten. Die nächsten Tage nahm der Strom
der Zurückflutenden bedenklich zu. Militär-Auffangstellen wurden
eingerichtet. Der Kampf um Elbing war anscheinend im Gange, man hörte
es. Kriegsschiffe schossen von See aus über die Nehrung in die Stadt
hinein.
Die folgenden Wochen bis Anfang März zogen unaufhörlich
die ostpreußischen Trecks über die Nehrung, in 5 Ketten: auf dem Eis
des Haffes, die Dorfstraße, die Waldchaussee, einen Dünenweg, der noch
gebaut wurde und am Strand entlang, zogen sie dahin. In den Gesichtern
der Menschen saß der Abschiedsschmerz, aber noch mehr die ausgestandene
Angst beim Überfahren des Haffes. Neben ihnen hatten die Geschosse der
Ari (Artillerie) eingeschlagen, die von Frauenburg und Tolkemit die
Trecks auf dem Eis beschoss. Das Eis wurde dadurch immer brüchiger und
manch einer fand in dem Eisgrab den Tod oder, wenn er sich rettete, sah
er sein letztes Hab und Gut, oft noch mit lieben Menschen in den Fluten
versinken. Russische Tiefflieger jagten die Reihen der Wagen entlang und
oft mussten die Wagen mit den angeschossenen Pferden stehen gelassen
werden und es ging zu Fuß weiter.
Die Menschen wurden
abgestumpft gegen das Leid der anderen und auch bald gegen ihres, denn
es blieb ihnen nicht einmal Zeit, ihre Toten, die unterwegs durch
Beschuss, Kälte und Entkräftung gestorben waren, zu beerdigen.
Täglich fand man Tote an den Wegen und in den Häusern liegen. Es hieß
immer: nur weiter, weiter, nur nicht den Anschluss verpassen. Wenn man
einmal hinten blieb, fand man nicht mehr die, mit denen man diesen Weg
zusammen gehen wollte.
Von der N.S.V. waren an den
Straßenkreuzungen, in Hotels und Schulen Verpflegungsstätten
eingerichtet, die laufend Brot und Suppen verteilten. Die Wohnhäuser,
Ställe, Fischräuchereien usw. waren jede Nacht gerammelt voll, denn
jeder sehnte sich danach, die kalte Nacht wenigstens in einem Raum zu
verbringen. Jeder wäre noch gerne einen Tag länger im Quartier
geblieben, wenn er eines gefunden hätte, denn es war zu der Zeit noch
verführerisch ruhig auf der Nehrung, aber die Polizei setzte jeden Tag
wieder alle in Bewegung, denn Tausende und Abertausende kamen doch noch.
Ich
als Bürgermeister hatte in diesen Tagen viel zu tun. Mit noch drei
Kahlbergern übernahm ich die Leichenbestattung, denn wenn auch die
Lebenden vorgingen, um die Toten musste sich auch gekümmert werden. Auf
dem Friedhof von Kahlberg wurde ein großes Massengrab geschaufelt, da
etwas anderes zu machen bei der Kälte gar nicht möglich war. Dort
kamen sie alle herein, alt und jung, arm und reich, Zivilisten und
Soldaten, 170 Personen. Später wurden Reihengräber gemacht. Über die
Namen der Toten, die zu der Zeit beerdigt wurden, kann ich leider keine
Angaben machen. Ich hatte die Namen, so weit ich sie erhalten konnte,
mit noch anderen Personalien in einer Aufstellung festgehalten. Zu
dieser erhielt ich in den letzten Tagen, die wir in der Heimat waren,
noch eine Aufstellung eines Heerespfarrers über die Soldaten, die in
Kahlberg von der Wehrmacht beerdigt wurden. Alle beiden Aufstellungen
sind mir während der russischen Besatzungszeit abhanden gekommen.
Weiter
musste ich die Bestände aus den Geschäften sicherstellen, um sie den
Verpflegungsstellen zu übergeben, um somit eine gerechte Verteilung zu
gewährleisten. Für die einheimische Bevölkerung musste auch gesorgt
werden, denn die hatte sich schnell vermehrt. Die Schiffe, die die
Bevölkerung abgeholt hatten, wurden in Neufahrwasser ausgeladen und
dort wurden die Familien in Privatquartieren untergebracht. Jeder tat
nun, was er für richtig hielt. Ein Teil fuhr per Schiff und Bahn nach
Westen weiter. Ein Teil blieb noch da und ein Teil kehrte zu Fuß nach
Hause zurück, so dass im April wieder 120 Personen im Dorf waren.
Ende
Februar wurden in Kahlberg in die See noch zwei Seestege gebaut, da von
Danzig bzw. Hela laufend Schiffe kamen, um die Flüchtlinge, verwundete
Soldaten und Kranke abzutransportieren. Der Strand glich oft einem
Schlachtfeld, wo alles zurückgelassen wurde, was einmal Menschen als
ihr eigen betrachtet hatten.
Von Tolkemit schoss ab Ende Februar
laufend die russische Ari zur Nehrung. Die Nehrung war gespickt voll von
Wehrmacht sämtlicher Truppenteile. Dieselben begannen nun mit dem
Bunkerbau im Wald. Die ehemaligen Adolf-Hitler-Straße, deren Gebäude
z. T. schon alle getroffen waren, wurde restlos abgebrochen und das Holz
zum Bunkerbau verwendet. Der Wald lichtete sich stark und es entstand
eine gewaltige Bunkerstadt. Jeder Berg war gespickt voll mit großen,
sehr stabilen Bunkern. Die Soldaten führten sich im Moment noch ganz
wohl auf der Nehrung, die Schießerei war nach ihren Begriffen nicht zu
wild, Verpflegung gab es genug. Nur ein anderer Teil ahnte aber auch,
dass die Nehrung doch eine sogenannte Mausefalle war und für viele von
ihnen das Grab werden würde und letzten Endes war jeder froh, wenn es
hieß: Wir setzen uns über See nach Westen ab. Das war aber nicht bei
vielen der Fall.
Anfang März hörten auch die Trecks auf, die
Wehrmacht war kein wilder Haufen mehr, so dass es in dieser Beziehung
ruhig war. Dadurch ließen sich auch ein Teil Kahlberger dazu verleiten,
wieder nach Hause von Danzig zurück zu kommen. Der Ari-Beschuss und der
nächtliche Besuch der "Nebelkrähe" (russ. Flugzeug) wurde in
Kauf genommen, denn man war ja immer noch zu Hause. Zu essen gab's. ich
hatte mein Lebensmittelgeschäft ausverkauft und holte Verpflegung von
Stutthof. Dort war das Vieh aus der überschwemmten Niederung
zusammengetrieben und es gab alles in Hülle und Fülle, was Wochen
später in weite Ferne gerückt war.
Ostseebad Stutthof - Rathke's Seeweg (1929)
Wir hörten das Grollen der
Geschosse bei den Kämpfen um Heiligenbeil, Königsberg und Danzig und
saßen immer noch auf unserem Eiland. Auf demselben wurden Truppen hin
und hergeschoben, denn der Kreis wurde immer enger.
In der Nacht
vom 26. zum 27. April landete der Russe an zwei Stellen auf der Nehrung
bei Neutief und Möwenhaken. Nun schoss die Ari fast schon den ganzen
Tag und die "Nebelkrähe" kam die ganze Nacht. Noch einmal
kamen Schiffe, um die Bevölkerung und verwundete Soldaten abzuholen.
Am
1. Mai stand der Russe vormittags bei Schmergrube. Nun ließ die
Wehrmacht nicht mehr locker. Am Nachmittag ging ich mit ca. 80 Personen
los. 20 Personen blieben in Kahlberg und haben den Einfall der Russen
mitgemacht. Drei Frauen wurden wahrscheinlich durch Vergewaltigung
getötet, da dieselben einen Tag später nur noch verscharrt aufgefunden
wurden. Vier alte Personen werden seitdem vermisst. Ein großer Teil der
Bevölkerung war von Danzig mit Zügen weggefahren, zum größten Teil
nach Mecklenburg und Pommern gekommen, wo sie der Russe auch wieder
erwischt hat. Die am 1. Mai Kahlberg verließen, wurden an der Weichsel
noch verschifft und kamen über Hela nach Dänemark, Lübeck und Kiel.
Meine Familie und ich, sowie einige andere Heimatgenossen wurden am 5.
Mai abends in Nickelswalde/Weichsel mit Kampffähren nach Hela
transportiert. Hier an der Weichsel stauten sich die Soldaten zu
Tauenden und Abertausenden mit Wagen, Autos, Geschützen und sonstigem
Zubehör. Es sah aus wie ein riesiges Schlachtfeld, auf dem die Kämpfer
alles stehen und liegen gelassen hatten. Jeder wollte auf so eine Fähre
und damit auf den Weg nach Westen. Der Russe war an diesem Tage schon
über Kahlberg hinaus und die Kämpfe waren bei Pröbbernau in vollem
Gange. Man hörte fernes Grollen und Detonationen. In Kahlberg hatte der
Russe von Land aus und gleichzeitig vom Haff mit Booten angegriffen.
Am
6. Mai kam ich mit meinen wenigen Genossen aus der Heimat auf Hela an.
Dort bot sich dasselbe Bild, Militär, wo man hinsah und trat und auch
noch Zivilisten. Ein großer Teil von ihnen bemühte sich nicht, weiter
zu fahren. Es wurde soviel geredet von untergegangenen Schiffen usw. Es
war hier verhältnismäßig ruhig, außer einigen einzelnen Angriffen.
Verpflegung gab es genug, da hier viele Verpflegungslager der Wehrmacht
lagen. Um mit einem Schiff mitzukommen, gab es Bescheinigungen der
Ortskommandantur für Alte und Kranke. Aber wie überall in diesen
Tagen, konnte und wurde auch hier nicht mehr genau nach Vorschrift
gehandelt. So kamen auch wir mit einem alten Frachter, der aus
Königsberg stammte und der diese Tour zum ersten Mal fuhr, mit. Um 800
Personen waren auf demselben. Ein Teil lag im Laderaum und die übrigen
auf Deck. Das Geleit bestand aus 7 Schiffen bzw. Fähren, die schwarz
von Menschen waren. Die Fahrt an sich war ruhig. Nach 2 Tagen gerieten
wir in Nebel, so dass ein Schiff vom anderen nichts mehr sah. Unser
Frachter ankerte, da er jegliche Orientierung verloren hatte. Eine Nacht
lagen wir auf dem Meer. Am Morgen des 9. Mai, wie der Nebel verschwand,
lagen wir nicht weit von der Insel Bornholm/Dänemark. Wie wir im Hafen
anlangten, wurde uns vom deutschen Hafenkommandanten mitgeteilt, dass in
der vergangenen Nacht der Waffenstillstand vollzogen war.
Uns
wurde freigestellt, ob wir die Weiterfahrt antreten oder dableiben
wollten. Lange zu überlegen blieb uns nicht, denn am Horizont tauchten
plötzlich kleine Punkte auf, die sich schnell näherten und bald im
Hafen anlegten, als 6 russische Schnellboote. Unter den Leuten sah es
aus, als sollte eine Panik ausbrechen, dass sich jedoch bald legte, da
die Russen es vorerst nur auf das Militär abgesehen hatten.
Die
Insel Bornholm wurde, wie uns von den Russen mitgeteilt wurde, mit
Einverständnis der anderen Siegermächte von den Russen besetzt, um die
Deutschen, die darauf waren, herunter zu transportieren. Es waren dieses
nach Angaben 20 000 Soldaten und 4 000 Zivilisten. Die ersten Stunden
kümmerte sich niemand um uns. Am zweiten Tag kamen wir vom Schiff in
die Stadt Rönne. Die Dänen, die uns zuerst ziemlich ablehnend
gegenüber standen, wurden um vieles freundlicher, als sie die Russen
sahen.
Wir wurden in ein Massenlager gebracht und vom Dänischen
Roten Kreuz betreut. Inzwischen hatte der Russe sämtliches Militär
zusammengezogen und es ging an den Abtransport.
Bornholm
verfügte über eine große Fischerflotte und auch über mehrere große
Passagierschiffe, die, man weiß nicht wie sie es erfahren haben, kurz
bevor der Russe kam, hinüber zum dänischen Mutterland gefahren waren.
Dieselben mussten nun zurück kommen und den Transport der Deutschen
nach Pommern übernehmen.
Nachdem das Militär abtransportiert
war, kamen auch die Zivilisten dran. Verschiedene äußerten ganz
heimlich den Wunsch dazubleiben, aber dazu bestand keine Möglichkeit.
Am 13. 5. wurden wir auf einem großen Passagierschiff nach Kolberg in
Pommern gebracht. Dann pfiff schon ein anderer Wind, wie wir dänischen
Boden verlassen hatten. In Kolberg lag viel russisches Militär. Der
Hafen und das Stadtgebiet waren ein Trümmerhaufen. Wir wurden in
halbkaputte Häuser eingewiesen, die wir uns notdürftig zurecht
machten. Aus anderen Häusern wurde noch Brauchbares zusammengeholt und
es wurde etwas wohnlich gemacht. Hier hörte man schon von den wenigen
Deutschen, die in der Stadt geblieben waren, vom Leben unter den Russen.
Dann mussten wir jeden Morgen antreten, 1 - 2 Stunden stehen, ehe man
sich besonnen hatte, wo wir heute hin sollten. Meistens wurden Häuser
ausgeräumt. Das bestand darin, dass wir die Wohnungen ganz leer
machten, alles durch' s Treppenhaus von oben in den Flur warfen und von
dort in den Keller. Eine andere Gruppe musste Keller ausräumen, die
vollgestopft waren mit allem möglichen. Alles wurde vernichtet.
Essbares haben wir uns noch herausgesucht, denn wir bekamen hin und
wieder ein Stückchen Brot, sonst nichts. 5 Tage später kam der Befehl
des Räumens. Es ging 2 km aus Kolberg in eine Siedlung, deren Häuser
schön ganz waren, leider leer. Wieder ging es ans Zusammensuchen. Hier
verlebten wir auch das Pfingstfest am 20./21.5. Arbeiten gingen wir in
die Stadt. Auch dort war unseres Bleibens nicht lange, am 25./26.Mai kam
die Parole: Alles geht nach Hause. Jeder konnte sich einen Passierschein
ausstellen lassen, wo er hin wollte, aber wer wollte nicht nach Hause.
Also hatten wir nun einen Weg von 360 km in die Heimat vor uns.
Wir
kamen an ausgestorbenen Dörfern vorbei und an solchen, die noch z. T.
von Deutschen bewohnt waren, die aber alle nur ängstlich herbei kamen
und sogleich verschwanden, wenn sie eine Uniform in der Nähe auftauchen
sahen. Zur Nacht wurde in leeren Häusern oder bei Deutschen Quartier
gemacht. Kartoffeln gab es genug in den Mieten und Rhabarber wuchs
überall. Das war das einzige, was der Russe gelassen hatte. Überfälle
der Russen des Nachts und auch am Tage musste man sich gefallen lassen
und auch, dass sie sich nahmen, was ihnen gerade gefiel. Man war nur
froh, dass sie einen noch davon gehen ließen. Nach zwölftägigem
Marsch langten wir in der Heimat an. Man sagte Heimat, aber war es noch
die Heimat? Wo man hin sah waren Trümmer und Unrat und doch fühlten
wir uns zu Hause.
Das erst Quartier, das wir auf der Nehrung
machten, war Bodenwinkel, wo wir noch ca. 15 Personen aus Kahlberg
antrafen, darunter war auch meine 70jährige Schwiegermutter, die den
Einzug der Russen miterlebt hatte. Nach zweitägiger Rast begaben wir
uns nach Kahlberg. Durch Ari-Beschuss und sinnlosem Niedermachen des
Baumbestandes kam uns unser schöner Nehrungswald wie ein Steppenwald
vor. Ein schmerzlicher Anblick war für uns, wie wir unsere Kirche in
Pröbbernau sahen. Die Orgel und sonstiges Inventar lag draußen vor der
Tür und die Kirche selbst diente als Kino. Auch an unseren Häusern in
Liep war der Krieg nicht spurlos vorüber gegangen, doch wir waren froh,
dass wir wieder in unseren vier Wänden waren.
Mit der Zeit
fanden sich noch mehr Kahlberger ein, die den langen Weg von Pommern und
sogar von Mecklenburg nicht gescheut hatten. Kahlberg selbst lag voll
von russischem Militär. Esswaren fanden wir überhaupt nicht vor, es
war sich jetzt jeder selbst der Nächste und jeder musste sehen, wo er
etwas auftrieb. Um überhaupt etwas Essbares zu erhalten, habe ich bis
zu meiner Verhaftung in der Bäckerei Stobbe, die von den Russen besetzt
war, als Schroter gearbeitet und ich war glücklich, wenn ich abends mit
einem oder zwei Pfund Mehl nach Hause gehen konnte. Einige Kahlberger
Fischer fischten für das russische Militär und meine Tochter half dort
selbst. Wie freuten wir uns dann, wenn für uns auch einmal ein Fisch
abfiel. Die Fischerei war ja immer schon auf der Nehrung das tägliche
Brot der Leute gewesen und es zeigte sich jetzt auch wieder, dass dieses
schwere Brot so manch einen am Leben hielt.
Kahlberger Fischer bei der Arbeit
Fischer
beim Reinigen der Aale
Die russischen Truppen waren
kaserniert, nur des Nachts standen wir Ängste aus, wenn betrunkene
Soldaten, von Danzig kommend, unsere Ortschaft unsicher machten. Wie mir
später meine Familie mitteilte, gelang es so einer Horde des Nachts in
unser Haus einzudringen. Schläge mit Gewehrkolben und andere
Misshandlungen waren die Folge.
Ich möchte hier noch eine kurze
Beschreibung des Ortsbildes von Kahlberg zu der Zeit einflechten.
Insgesamt waren 26 Häuser und Hotels durch Aribeschuss und Feuer total
vernichtet. Die gesamten Gebäude der ehemaligen Adolf-Hitler-Straße
waren ein Trümmerhaufen. Die Siedlungen am Leuchtturm und Höhenweg
waren ziemlich gut erhalten und wurden von der russischen Prominenz
bewohnt. Aus der evangelischen Kapelle war ebenfalls die Orgel
herausgerissen. Der Majolika-Christuskopf, der dem Altar hing, befand
sich bis zur Vertreibung noch in unserem Besitz.
Am 6. Juli 1945
wurde ich auf meiner Arbeitsstelle verhaftet. Ich wurde auf der
GPU-Zentrale (Hotel Kaiserhof) abgeliefert. 10 Tage verbrachte ich hier
im Keller. Fast jede Nacht wurde ich zum Verhör geholt und mit
russischer Vernehmungskunst verhört. Die Verhöre drehten sich meistens
um die Partei und es wurde hierbei auch nicht mit Schlägen gespart.
Meine Tochter wurde zu so einem Verhör auch einmal mit zugezogen. Nach
10 Tage wurde ich mit einem bewachten Boot nach Tolkemit gebracht. An
diesem Tag sah ich unser Kahlberg zum letzten Mal. Von Tolkemit ging es
weiter nach Elbing und dort über Pr. Eylau nach Königsberg, wo ich bis
August 1948 im Gefangenenlager war.
Meine Tochter setzt jetzt den
Bericht fort, wie es ihnen noch auf der Nehrung ergangen ist:
Von
dem Verbleib meines Vaters wussten wir nichts und wir mussten uns mit
dem Gedanken tragen, dass er eines Tages doch noch zurück kam und somit
alles in Gottes Hand legen.
Am 15.12.1945 zog das russische
Militär ab, da durch die neue Grenzziehung Kahlberg an Polen fiel. Beim
Abzug wurde der ehemalige Kurhaus-Besitzer Müller mit Tochter
mitgenommen, der Fuhrhalter Lange, der sich weigerte, wurde erschossen.
Durch den Abzug der Russen wurde es etwas ruhiger in unserem Ort. Ein
polnisches Kommando, das jetzt einzog, quartierte sich in der
Volksschule ein. Trotzdem wir unser schönes Kahlberg so liebten, war es
doch nicht mehr die Heimat, wie früher, die alt vertrauten Gesichter
fehlten. In der Ungewissheit über die abwesenden Angehörigen gingen
die Tag träge dahin. Mit der Zeit kamen immer mehr Polen, die von allem
was jetzt noch zu gebrauchen war, Besitz ergriffen. Für die Arbeit
unter den Polen wurden wir bezahlt, so dass wir dadurch schon mal etwas
an Esswaren kaufen konnten. Außerdem waren im Wald gerade in diesem
Jahr reichlich Pilze und Beeren und wir waren eifrige Sammler des Gutes,
das der Herrgott für uns hatte wachsen lassen. Unter den Polen gab es
auch Menschen, die menschlich dachten und uns hin und wieder etwas Gutes
zukommen ließen.
Wir wurden daher auch schon von manchen Polen,
die uns gut sein wollten, gewarnt, uns bereit zu halten, dann täglich
konnte die Ausweisung kommen. Dieses geschah dann auch am 17. Juli 1946.
Das Milizkommando stand vor der Tür und wir mussten in 10 Minuten
unsere Sachen packen und das Haus verlassen. Es verblieben nur noch 2
Familien im Ort, die ein halbes Jahr später ausgewiesen wurden und in
dieser Zeit noch den Polen für die Fischerei nützlich waren.
Noch
einmal standen wir auf der Mole und sahen herüber zum Dorf, das bis
dahin unsere Heimat gewesen war. Noch einmal fuhren wir über das
Frische Haff nach Tolkemit und von dort mit einer inzwischen notdürftig
fertig gestellten Haffuferbahn nach Elbing. Am Getreide-Silo wurden wir
ausgeladen und in Schleppkähnen ging es weiter nach Danzig. Stettin war
die letzte große Wartestation, wo das Gepäck nochmals, wie schon oft,
auf das Genaueste "kontrolliert" wurde. Von dort ging die
Fahrt dann in den Westen und mit Heimatgenossen, mit denen wir so lange
Freud und Leid geteilt hatten, kamen wir nach Eitorf.
Die
Ansichtskarten sind aus der Sammlung von Christa Mühleisen.